Ein Apfelmärchen
Es war einmal ein junger Mann, der sich seit seiner frühsten Jugend
weigerte, Obst zu essen. Seine Mutter konnte versuchen, was sie wollte. Da
sie eine sehr phantasievolle Frau war, waren ihre Bemühungen, ihren Sohn
mit den nötigen Vitaminen zu versorgen vielfältig. Mal rieb sie Äpfel fein
und mischte sie unters Kartoffelpüree, mal presste sie Orangen aus und
rührte den Saft ins Müsli. Ja, sie überzog sogar Obststücke mit
Schokolade, die der Junge liebte, aber auch diese verweigerte er. Egal,
wie gut die Früchte versteckt waren, er erkannte es sofort. Schließlich
verzweifelte sie und gab es auf. Vielleicht brauchte ihr Kind einfach kein
Obst?
Man hörte ja vermehrt von diversen Nahrungsmittelunverträglichkeiten
und Allergien. Eines Tages sagte sie also zu ihrem Mann: Ich habe alles
versucht. Nun kann ich nicht mehr. Sprich du mit unserem Sohn,
vielleicht hört er auf dich. Der Vater des Jungen nun, bei weitem nicht so
phantasiebegabt wie seine Frau und nicht sehr geübt in ernsten
Gesprächen mit seinem Kinde, ermannte sich, nahm seinen Sprössling zur
Seite und sprach: Sohn! Obst ist gesund! Der Mensch braucht Vitamine, also
esse, was der Garten dir bietet! Doch auch dieser „flammende“ Appell
zeigte keine Wirkung. Letztendlich akzeptierten alle, dass er kein Obst
aß, zumal ihm dies auch nicht zu schaden schien.
Das Kind wuchs heran und wurde zu einem jungen Mann, der nach seinem
Abitur ein Informatikstudium begann. Da seine Eltern arm waren, musste er
mit wenig Geld auskommen, was ihm kaum etwas ausmachte. Bis zu jenem Tag,
an dem er sich einen Computer wünschte. Nicht irgendeinen, sondern das
neuste Modell mit unbegrenzten Möglichkeiten und Neuerungen, war es, dass
das Verlangen in seinem Herzen schürte. Sogar der Apfel, das Markenzeichen
der Herstellerfirma, störte ihn hier nicht. Jeden Tag ging er an dem
Computergeschäft vorbei und sah sich das Objekt seiner Begierde im
Schaufenster an. Noch nie hatte er sich etwas so aus tiefster Seele
gewünscht wie diesen Wunderkasten. Da ihm aber das Geld für eine
Anschaffung in dieser Größenordnung fehlte, blieb es vorerst beim Träumen.
So überlegte er, wie er seine Ausgaben einschränken konnte, um die nötige
Summe anzusparen. Zuerst gab er den wöchentlichen Kneipenbesuch mit seinen
Freunden auf. Dann schränkte er mehr und mehr seine Kosten für
Lebensmittel ein, bis er schließlich nur noch von Toastbrot und
Schmelzkäse lebte. Eine Zeitlang sah es so aus, als würde er auf diese
Weise in einigen Monaten den nötigen Betrag angespart haben. Schwierig
wurde es, als durch seine einseitige Ernährung seine Energie und
Konzentrationsfähigkeit mehr und mehr abnahm. Es gab ernste Gespräche mit
seinen Professoren, und auch seine Eltern ermahnten ihn, sich
zusammenzureißen. An diesem Punkt überlegte er ernsthaft, seinen Plan
aufzugeben. Doch als er das nächste Mal an dem Schaufenster mit dem Objekt
seiner Begierde vorbei kam, wurde ihm klar: Er musste den eingeschlagenen
Weg weitergehen. Dieser Computer, mit dem
strahlendem, weißem Gehäuse auf dem ein silberner, angebissener Apfel
prangte, sollte seiner werden. Also sparte er weiter.
Schließlich hatte er die nötige Summe fast zusammen, und sah das Ende
seiner Entbehrungen vor sich. Da kam der nächste Schlag. Eine
Stromnachzahlung in Höhe von über 300 € warf ihn um weitere Wochen zurück.
Er war verzweifelt. Verdammte das Schicksal, die Armut seiner Eltern, die
Preispolitik der Stromkonzerne und nicht zuletzt sich selber. Erneut
spielte er mit dem Gedanken aufzugeben, verwarf diesen jedoch wieder. Er
musste diesen Computer besitzen, koste es, was es wolle. Um in seinem
Entschluss stark zu bleiben, ging er jeden Tag zum Schaufenster und sah
gierig auf das Gerät. Er stellte sich vor, wie es sein würde, wenn er es
endlich in Händen hielt, es aus der Verpackung befreite, und es in Betrieb
nahm. Das gab ihm Kraft auch weiterhin von Schmelzkäse und Toastbrot zu
leben.
Eines Tages nun, als er wieder einmal vor dem Schaufenster stand, bemerkte
er eine junge Frau neben sich. Sie war wunderschön. Lange blonde Haare,
umrahmten ein schmal geschnittenes Gesicht, aus dem ihn kornblumenblaue
Augen anstrahlten. Ihre Schönheit verschlug ihm schier den Atem, und
gerade, als er überlegte, sie anzusprechen, öffneten sich ihre kirschroten
Lippen und sie sagte:
-Hallo mein Lieber, ich bin deine gute Fee und weiß von deinem innigsten
Wunsch. Ich bin hier, um ihn dir zu erfüllen.
Nachdem der junge Mann monatelang nur von Schmelzkäse und Toastbrot gelebt
hatte, war er sogar bereit an die Existenz von Feen zu glauben, und
dachte: Nun hat meine Not ein Ende. Die Leiden haben sich gelohnt.
Er sprang vor Begeisterung in die Luft, dankte ihr und fragte, wie es dann
weiter ginge? Würde sie den Computer einfach in seine Wohnung zaubern?
Oder der nötige Betrag auf sein Konto überwiesen werden?
Sie lächelte leicht und sagte: Das wirst du gleich erfahren. Aber, bevor
ich dir die weitere Vorgehensweise erkläre, musst du drei von diesen
Äpfeln essen. Erst jetzt bemerkte er den Korb an ihrem Arm, der voller
grün, rot, glänzender Äpfel war, den sie ihm einladend entgegen streckte.
Der alte Widerwillen gegen Früchte stieg in ihm auf. Aber nach einem
sehnsüchtigen Blick auf seinen Traumcomputer und auf ihr ermutigendes
Lächeln, griff er zögernd zu. Schlimmer als Toastbrot mit Schmelzkäse
konnte dies schließlich auch nicht sein. Zögernd biss er in den ersten
Apfel und verschlang ihn in Windeseile. Gleich griff er nach der zweiten
Frucht, denn: je eher daran, je eher davon. Er biss hinein und diesmal
kaute er langsamer. Schmeckte den süßen Saft und roch den zarten Duft des
Obstes. Den dritten Apfel nahm er schon völlig ohne Widerwillen. Während
er ihn verzehrte, beobachtete die Fee ihn mit einem zufriedenen Lächeln.
Kaum hatte der junge Mann den letzten Bissen in den Mund geschoben und
zerkaut, noch im Schlucken, drängte er: und jetzt? Was ist mit dem
Computer?“
Die Fee, die nun statt des Apfelkorbes, ein Klemmbrett in ihren Händen
hielt, lächelte boshaft, während sie einige Notizen machte: „Sorry Junge,
für Kommunikationsmedien bin ich nicht zuständig. Das ist eine andere
Abteilung. Mein Gebiet ist „Gesunde Ernährung“ und seit dreiundzwanzig
Jahren versaust du mir meine Erfolgsbilanz, durch deine blödsinnige
Weigerung, Obst zu essen. Aber nachdem ich auch diesen Fall als erledigt
abhaken kann, sollte ich endlich meine Beförderung bekommen.“ Bevor er ein
weiteres Wort sagen konnte, verschwand sie vor seinen Augen und ließ ihn
wütend und frustriert zurück.
Den ganzen Heimweg schimpfte er vor sich hin. Über die Ungerechtigkeit des
Schicksals, die Gemeinheit der Feen heut zu Tage – schienen nur auf die
eigene Karriere fixiert zu sein – und auf sich selber und seine
Gutgläubigkeit.
Wieder in seiner kleinen Wohnung warf er seinen alten Computer an, und
rief seine E-mails ab. Zwischen den üblichen Nachrichten von Kommilitonen
und Freunden stach ihm eine besonders ins Auge. Eine Nachricht von
Adalbert Richter, seinem Patenonkel, wie er sich dunkel erinnerte.
Überrascht von einem Mann zu hören, den er seit seiner Taufe nicht mehr
gesehen hatte, öffnete er sie und las:
Lieber Neffe! Mit ist aufgefallen, dass ich es die letzten 23 Jahre
versäumt habe, an deinen Geburtstag zu denken. Da mir diese Unterlassung
doch sehr auf der Seele liegt, möchte ich die vergessenen Geschenke
nachholen. Da ich nicht weiß, was junge Leute so brauchen, habe ich mir
von deiner Mutter deine Bankverbindung geben lassen und 2500 € auf dein
Konto überwiesen.
Entschuldige noch einmal meine Nachlässigkeit, aber diese Familiendinge
sind mir immer schwergefallen. Liebe Grüße, Onkel Adalbert.
Der junge Mann las die Nachricht zweimal. Erst voller Freude und Hoffnung
und dann mit leisen Zweifel. Vielleicht war das ja wieder so eine linke
Sache von dieser Fee. Er wechselte von seinem E-mail Account ins
Onlinebanking und schrie vor Freude auf. Tatsächlich! Der Betrag war
eingegangen.
Er sprang auf und lief los in das Geschäft, vor dessen Schaufenster er so
viel Zeit verbracht hatte. Dort konnte er endlich seinen Traumcomputer in
die Arme schließen. Und sie lebten glücklich und zufrieden bis die
Apfelfirma das nächste, noch bessere noch schnellere Fabrikat auf den
Markt brachte.
(Karin Braun)