Ruhrpottliebe

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1974

„….und du kommst ganz bestimmt? Fest versprochen?“ Annerose klang völlig aufgelöst, was zum einen an der schlechten Telefonverbindung, zum anderen an ihrem Zustand lag.
Elisa versuchte beruhigend zu klingen. „Ja klar komme ich, das habe ich dir schon ein Dutzend Mal gesagt! Schließlich heiratet man nur einmal im Leben!“
„Eben, mein Brautkleid ist ein Traum, du wirst es ja sehen. Ich bin so aufgeregt“, dass hätte Annerose nicht extra betonen müssen. Seit sie Elisa vor einiger Zeit erzählt hatte, dass sie und Mario heiraten würden, schwankte sie permanent zwischen Euphorie und Panik hin und her.
Annerose und Elisa kannten sich seit ihrer gemeinsamen Lehrzeit. Anne hatte ein Jahr später als Elisa mit der Ausbildung zur Bürokauffrau bei einem Opelhändler angefangen. Die Beiden verstanden sich von Anfang an und wurden schnell Freundinnen.
Hinzu kam, dass die beiden Mädchen bald zwei mit einander befreundete Arbeitskollegen kennen lernten, die bereits ihre Lehre abgeschlossen hatten und als Gesellen in der Werkstatt arbeiteten.
Während es zwischen der blonden, vorwitzigen Annerose und dem bulligen Mario Meier gleich funkte, dauerte es einige Zeit und Überredungskünste, bis sich Elisa auf Marios besten Freund,  Alfred Gimpel einließ. Das lag weniger an seinem merkwürdigen Hausnamen, als an dem fehlenden ‚zündenden Funken‘ ihrerseits.
Obwohl Alfred ihr oft genug seine Liebe erklärte, erschien es Elisa so, als ob zwischen ihnen etwas fehlte. Sie hätte gar nicht ausdrücken können, woran es haperte, aber die große Liebe, die sie sich erträumt hatte, war hier offensichtlich nicht vorhanden.

So fiel es Elisa nicht schwer, nach der erfolgreich abgeschlossenen Ausbildung Gelsenkirchen den Rücken zu kehren und zu ihrem Bruder nach Berlin zu ziehen. Peter war lange zur See gefahren, hatte sich dann aber in Berlin nieder gelassen und arbeitete als Kellner in einem Restaurant am Kurfürstendamm. Da er bis dato nur ein möbliertes Zimmer bewohnt hatte, mieteten die Beiden zusammen eine Wohnung an.

Von Alfred hatte sie sich vor ihrer Übersiedelung nach Berlin getrennt und hörte nur noch ab und zu über Anne etwas von ihm. In letzter Zeit allerdings erzählte auch die Freundin nichts mehr. Elisa dachte kaum noch an ihn und genoss ihre neu erworbene Freiheit und Unabhängigkeit.
Vor einiger Zeit war eine Karte von Annerose und Mario ins Haus geflattert.

Ihre Vermählung geben bekannt:

Annerose van der Heidt und Mario Meier

Elisa sah die ganze Geschichte eher skeptisch. Sie wusste zwar, dass ihre beste Freundin nur zu gerne von zu Hause ausziehen und so ihrem despotischen Vater entgehen wollte, aber deshalb gleich heiraten? So etwas kam für sie überhaupt nicht in Frage, denn es war mühsam genug gewesen, sich frei zu strampeln.

In der Folgezeit warnte Elisa die Freundin oft genug davor, vorschnell zu heiraten, denn schließlich war die angehende Braut erst 17 Jahre jung. Die ließ sich aber weder von ihrer Freundin, noch von den Formalitäten, die es wegen ihrer fehlenden Volljährigkeit gab, abschrecken. Sie war wild entschlossen mit Mario vor den Altar zu treten.
„Herrlich – endlich muss ich nicht mehr heimlich auf der Toilette rauchen, weil mein Vater sonst ausflippt. Ich muss nicht mehr alles essen was auf den Tisch kommt und anschließend den Finger in den Hals stecken, damit ich mein Gewicht halte! Ich kann nach Hause kommen, wann ich möchte und niemand macht mir Vorschriften.“

Elisa konnte nur hilflos mit dem Kopf schütteln. „Warum wartest du nicht, bis du 18 bist und ziehst dann einfach von zu Hause aus. Dann kannst du erst einmal alleine wohnen und wirklich unabhängig sein. Einmal mit Mario verheiratet hast du wieder jemanden auf dem Hals, der dir Vorschriften macht.“
Annerose ließ sich nicht beeindrucken. „Mario frisst mir aus der Hand, er würde mir niemals sagen was ich zu tun und lassen habe.“
„ja dann…“, wenn Anne unbedingt in ihr Unglück rennen wollte, dann war das nicht zu ändern. So gab Elisa es auf, die Freundin umstimmen zu wollen und hörte sich geduldig alles an, was es über die anstehende Hochzeit zu erzählen gab.

***

Jetzt fuhr der  Zug in den Gelsenkirchener Hauptbahnhof ein. Elisa konnte sich noch gut an den Tag vor mehr als einem Jahr erinnern: Sie hatte im Zug in Richtung Berlin gesessen und überhaupt nicht gewusst, wie es weiter gehen würde. Der Gedanke, nach dort hin zu übersiedeln war ihr spontan gekommen und auf der Zugfahrt schlotterten ihr aus Angst vor der eigenen Courage die Knie. Doch bei der Ankunft wartete ihr Bruder bereits auf dem Bahnsteig und die Angst war wie weggeblasen.
Peter hatte schon im Vorfeld alles organisiert, so dass die Geschwister sofort in die neue Wohnung einziehen konnten, die möbliert war.

Das Zusammenleben gestaltete sich völlig problemlos, da Peter als Kellner meistens abends, bzw. nachts arbeitete, während  seine Schwester tags über im Büro tätig war. Oft sahen sich die Geschwister nur zwischen Tür und Angel. Einerseits war das schön, weil Elisa tun und lassen konnte was sie wollte, andererseits fühlte sie sich oft allein. Zuweilen dachte sie mit Wehmut an ihren Gelsenkirchener  Freundeskreis zurück. In Berlin kam sie sich viel anonymer vor, als das in ihrer Heimatstadt der Fall gewesen war.  In letzter Zeit machte ihr einer von Peters Arbeitskollegen heftig den Hof und sie traf sich häufig mit ihm, obwohl sich auch hier die große Liebe nicht einstellen wollte.
„Wahrscheinlich liegt es an mir“, dachte sie häufig. „Sicher erwarte ich zu viel und deshalb klappt es nicht mit der Liebe.“

Inzwischen hatte der Zug gehalten, Elisa stieg aus und sah sich suchend um. Sie musste nicht lange schauen, denn ihr Vater kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.
„Da bist du ja, Spatz!“

„Schön wieder zu Hause zu sein, Papa. Wartest du schon lange?“
„Eine Weile, aber das ist überhaupt nicht schlimm.“ Er ließ seine Tochter los und griff nach ihrem Koffer. „Den nehme ich schon, der ist ja viel zu schwer für dich.“
Auf der Fahrt nach Hause schwärmte Kalle von der neuen Wohnung. „Du wirst es ja endlich selber sehen, Spatz, die neue Wohnung ist nicht mit der Bude zu vergleichen, in der wir gehaust haben. Sogar einen Balkon gibt es und wir sind die ersten Mieter, das Haus ist nagelneu. Erstbezug…“, er ließ das Wort genießerisch über seine Zunge rollen und wiederholte es noch einmal. „Erstbezug! Selbst deine Mutter ist zufrieden. Seit unserem Umzug hat sie noch keine Herzprobleme gehabt, was kein Wunder ist, denn auch finanziell geht es steil bergan.“
Kalle, schon mit 45 Jahren Frührentner, betrieb mit seiner Frau zusammen eine Trinkhalle, da seine Rente mehr als mickerig war. Elisa grinste, denn Ilse brachte seit Jahren mit ihren eingebildeten Herzproblemen sämtliche Ärzte zur Verzweiflung. „Na, dann scheinst du ja alles im Griff zu haben. Was macht Bertram?“
„Jaa“, sagte Kalle gedehnt. „Er hat die Erwartungen deiner Mutter erfüllt. Sie wollte immer, dass eines ihrer Kinder die ‚höhere Schule‘ besucht. Bertram ist auf der Realschule und sie ist zufrieden. Er bemüht sich sie nicht zu enttäuschen.“

Wenig später hielt er auf dem Parkplatz, der sich vor einem groß angelegten Plattenbau befand.  „Hier sind wir also. Ist es nicht ein fabelhaftes Haus! Innen gibt es sogar einen Hof, in dem dein Bruder Fahrrad fahren kann.“
„Ja, es sieht toll aus“, murmelte Elisa nicht gerade begeistert. Sie konnte sich nicht vorstellen in einem solchen Wohnsilo zu leben.
„Du musst erst mal mit reinkommen, es gibt sogar einen Fahrstuhl“, Kalle stellte den Koffer ab und drückte auf den entsprechenden Knopf.
Elisa folgte ihm in die Kabine, wo er ein paar Papierschnipsel aufsammelte. „Ich bin hier der Hausmeister und für die Sauberkeit zuständig. Wir bekommen dafür einen Mietnachlass von 50 Mark – monatlich“, erklärte Kalle, als er den Blick seiner Tochter bemerkte.
„Ach und ihr müsst das gesamte Treppenhaus putzen? Was sagt denn Mutter dazu?“ fragte Elise interessiert.
„Ne, ich soll nur für Sauberkeit im Fahrstuhl sorgen, deine Mutter will mir sogar mithelfen“, Kalle warf sich in die Brust. „Und ich habe eine Kurbel für den Notfall, falls der Fahrstuhl stecken bleibt bringe ich sie zum Einsatz!“
„Na das ist ja klasse“, insgeheim war Elisa froh, nicht mehr im elterlichen Haushalt zu wohnen, sonst hätte wohl sie für die ‚Sauberkeit im Fahrstuhl‘ sorgen müssen. Ihre Mutter hatte von jeher ein Talent zu delegieren.
Inzwischen waren Vater und Tochter vor der Wohnungstür angelangt. Kalle steckte den Schlüssel ins Schloss, kam aber nicht mehr dazu, sie zu öffnen. Bertram riss die Tür von innen auf und fiel Elisa um den Hals.
„Da bist du ja endlich“, krähte er glücklich.
„Hallo Brüderchen“, Elisa drückte ihn an sich um ihn einen Augenblick später wieder weg zu schieben. „Mensch bist du groß geworden, nicht mehr lange und du hast mich ein!“
„Puh, ich werde dich überragen!“ Bertram erinnerte sich wieder daran, dass er mit seinen zehn Jahren schon ziemlich erwachsen war.
Seine Schwester grinste ihn an. „Ja, das will ich doch hoffen, mein Lieber.“

Die Geschwister verband eine tiefe Zuneigung, denn Elisa hatte sich, bis sie ausgezogen war, in jeder Hinsicht um ihren Bruder gekümmert.
Als Bertram auf die Welt kam, war Ilse bereits 37 Jahre alt gewesen und hatte weder die Lust, noch die Geduld sich um das Baby zu kümmern. Hinzu kam, dass sie durch den plötzlichen Tod ihrer Mutter völlig aus der Bahn geworfen wurde und sowohl sich, als auch den Haushalt, ihren Mann und die Kinder völlig vernachlässigte. Das Baby überließ sie ihrer kleinen Tochter.

Bald darauf eröffneten die Jollenbecks eine Gastwirtschaft und jetzt war Ilse völlig überfordert.
Anfangs hatte man eine Hilfe, die alle anfallenden Arbeiten erledigte und sich um die Kinder kümmerte, doch schnell fehlte das nötige Kleingeld und so kümmerte sich Elisa neben dem Haushalt auch wieder um den kleinen Bruder. Peter, der Älteste, war bereits mit 16 Jahren zur Handelsmarine gegangen. Er tauchte nur noch sporadisch zu Hause auf, so dass Elisa allein auf weiter Flur stand.

Als er noch ziemlich klein war, fragte Bertram seine Schwester einmal, wer denn die dicke, blonde Tante wäre, die ihn öfter im Vorbeigehen abknuddelte und Elisa musste ihn darüber aufklären, dass es sich um seine Mutter handelte. Das hielt Bertram allerdings nicht ab, seine Schwester weiterhin Mama zu rufen.

Jetzt jedenfalls war Elisa wieder in Gelsenkirchen und wurde auch von ihrer Mutter herzlich begrüßt. Bertram erlaubte ihr großmütig in seinem Zimmer zu übernachten und so freute sich Elisa auf die Hochzeit ihrer besten Freundin.

***

„Hübsch siehst du aus, Spatz. Pass mal gut auf dich auf“, Kalle sah seine Tochter bewundernd an, die sich einmal um die eigene Achse drehte.
„Möchtest du nicht mitkommen und alle Jungens, die sich für mich interessieren verscheuchen? So wie früher!“ fragte Elisa grinsend.
Allerdings war es, als sie ins ‚mannbare Alter‘ kam, schwer, ihren Vater davon zu überzeugen, dass nicht jeder junge Mann nur ‚das Eine‘ wollte. Er versuchte wie eine Glucke über sie zu wachen und schlug so manchen Bewerber in die Flucht.
Leider war es ihm nicht immer gelungen, seine Tochter vor allem Schlimmen zu bewahren, denn Elisa musste eine Vergewaltigung über sich ergehen lassen. Sie hatte aus Scham und Verletztheit nie darüber gesprochen und den Vorfall mehr oder weniger verdrängt. Nur Ilse, die ihre Tochter damals in Empfang genommen hatte, wusste davon, sprach aber nie über die Vorkommnisse.
Jetzt sollte es zu Anneroses und Marios Hochzeit gehen und Elisa schüttelte alle unerfreulichen Gedanken ab. „Darf ich ihnen in die Stola helfen, schöne Frau?“ Galant legte ihr Vater das selbstgehäkelte Teil um die Schultern und Elisa hakte sich bei ihm unter. „Dann wollen wir mal!“

„Soll ich dich nachher nicht lieber abholen? Wir haben doch jetzt ein Telefon und du kannst mich jeder Zeit anrufen, ich bin unter Garantie wach“, fragte der besorgter Vater, als er seine Tochter vor der Kirche absetzte, wo sich die Hochzeitsgesellschaft bereits versammelte.
Wieder musste Elisa grinsen. „Das fehlt mir auch noch. Danke, Papa, es ist wirklich nett von dir, aber ich nehme mir einfach ein Taxi….oder ich lasse mich von einem der schnuckeligen jungen Männer, die ohne Zweifel  an meinem Tisch Schlange stehen werden nach Hause fahren“, fügte sie nach einem leicht boshaften Blick auf ihren Vater hinzu.
Der reagierte auch prompt. „Ich versohle dir gleich den Hintern, du freche Kröte! Mach mir die Jungens nicht verrückt!“  Mit einem Winken machte sich Kalle auf den Heimweg, während sich seine Tochter zu den Hochzeitsgästen gesellte.

…wie es weiter geht steht im Roman……

  • Die Personen wirken lebendig, die Bilder sind echt.
    Es entsteht auch ein Spannungsbogen, der sich langsam aufbaut.
    Wenn ich denn Titel lese, würde ich mir etwas mehr Lokalkolorit wünschen. Sprechen die Menschen dort wirklich so überlegt, mit wohlgeformten Sätzen?
    Etwas mehr Dialoge könnten die Figuren eventuell authentischer werden lassen. Zum Beispiel ist der Hinweis auf die Trinkhalle ein gelungener Ansatz in Sachen Lokalkolotit. Ich habe nirgends mehr Trinkhallen gesehen, als im Pott.

    Das sind aber nur Kleinigkeiten. Was mir sehr gefällt ist, dass die Figuren nach und nach auf der Bühne erscheinen und der Leser Zeit genug hat, in das Geschehen einzutauchen, was leider vielen Autoren nicht gelingt. Was auch schön herauskommt, ist der Abnabelungsprozess von Elisa. Eine Geschichte, die mich persönlich zum Weiterlesen bringt.

    • Danke, das ist wirklich eine Kritik, die mich weiter bringt, mit der ich sehr gut leben kann!!Werde sie (für den 3.Teil,“Ruhrpottblagen“)im Hinterkopf behalten.
      Allerdings taucht ab Seite 25 der „Ruhrpottliebe“ Alfred“Freddy“Gimpel und sein merkwürdiger Familienclan auf und das sind beinharte Kohlenpöttler..