Aus Kindern werden Leute

Die beste aller Ehefrauen hatte sich mit ihrer Freundin zum Kaffee verabredet. Sven wusste nichts mit sich anzufangen und beschloss, den Nachmittag damit zu verbringen, sich ungestört durch alle Sportkanäle zu zappen. Hoffnungsfroh betrat er das Wohnzimmer. Auf dem Sofa entdeckte er Lia, die Stöpsel im Ohr, das Smartphone vor den Augen. Einen Augenblick betrachtete er sein Töchterchen wohlgefällig. Lia, sechzehn Jahre jung, fast eine Frau. Gestern noch saß sie mit einem vollgesabberten Lätzchen vor der Brust auf dem Wohnzimmerteppich und verschönte ihn mithilfe diverser Filzstifte. Heute trug sie all zu kurze Shorts und Tops, die gnadenlos eingelaufen zu sein schienen. Darunter Pushup und String, aber das wollte er sich nicht vorstellen. Sven seufzte. Einen Moment hatte er nicht hingeschaut und schon schien das Leben halb vorüber zu sein.
Er setzte sich neben seine Prinzessin. Wie lange war es her, dass er ganz entspannt mit ihr gesprochen hatte? So von Papi zu Lialein. Er dachte nach. Das musste wohl gewesen sein, als sie in der Schulaufführung von unserer kleinen Farm die Erbsenschote gespielt hatte. Sven beschloss, dass dies eine gute Gelegenheit war, um die Vertrautheit wieder herzustellen und nicht durch einen Dolmetscher, sprich die beste Ehefrau von allen, zu kommunizieren.
„Hi, Prinzessin, alles easy?“, begann er mutig.
Lia schaute ihn verständnislos an, schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. Sven ließ sich nicht irritieren. Kurzentschlossen zog er einen Stöpsel aus ihrem Gehörgang.
„Alles easy?“, versuchte er noch einmal den artgerechten Einstieg in ein Gespräch.
Lia maß ihn mit einem forschend irritierten Blick, der einem Drogenscreen gleichkam. „Alles … easy? Dad?“
Sven lächelte sie wohlwollen an. „Was machst du so?“
„Was ich mache? Ich liege auf dem Sofa.“
Schweigen machte sich breit, doch Sven gelang es, die Kurve zu kriegen. „Und dein Freund? Was macht der?“ Fieberhaft überlegte er, wie der britischen Frauenflüsterer hieß. ‚Wie der amerikanische Schriftsteller, 1916 gestorben’, ging es ihm durch den Sinn. „Henry“, strahlte er. „Wie geht es Henry?“
Lia runzelte die Augenbrauen. „James? Er heißt James.“
„Weiß ich doch, James!“
„Na ja, der kommt heute Abend hier her. Aber wir gehen gleich in mein Zimmer“, fügte Lia sicherheitshalber hinzu.
Sven schluckte. „Sag doch mal – wie lange kennt ihr euch eigentlich schon? Ein halbes Jahr?“
„Länger. Ganz genau 10 Monate, 320 Tage und“, ein Blick auf die Uhr, „8 Stunden.“
„Das ist verdammt lange. Was macht ihr denn so, wenn ihr in deinem Zimmer seid?“, Sven bemerkte, dass sich ein leichter Schweißfilm auf seiner Stirn bildete. „Seht ihr fern?“
Lia zuckte die Schultern. „Manchmal.“
„Oder macht ihr Playstation?“
„Eher nicht.“
„Chillt ihr, so wie du jetzt?“
„DAD!“
Sven fühlte sich wie in einer Sackgasse ohne Wendemöglichkeit. Er straffte sich. „Sag mal, Lialein, hat Mama schon mal mit dir … gesprochen?“, hier räusperte er sich, denn sie sah ihm mit einem mehr als skeptischen Blick an. Diesen Blick kannte er, seit er seiner Tochter im Sandkasten ausführlich die Handhabung von Förmchen und Schaufel gezeigt hatte.
„Hm“, machte sie.
„Na, ja, Lialein. Ich bin ja auch mal ein Mann gewesen … ein junger Mann … meine ich … ein sehr junger Mann … jedenfalls jünger als heute …“
„Echt?“
Einen Augenblick fragte er sich, ob sie sich über ihn lustig machte, trotzdem konnte ihn das nicht stoppen. „Also sehr junge Männer haben Bedürfnisse, die sehr junge Mädchen manchmal nicht so … unbedingt …“
„Willst du wissen, ob wir Sex haben?“, unterbrach ihn Lia gnadenlos.
„Ja … nein … natürlich nicht … würde deine Intimsphäre nie verletzen …“, stammelte Sven und merkte, dass er rot anlief.
„Danke, Papi.“
Sven registrierte erfreut und erleichtert, dass sie wieder Papi sagte, so wie früher.
„Wenn es dich beruhigt, Rudelpoppen kommt für uns niemals in Frage.“
„Was?“ Plötzlich schmerzte seine linke Brustseite. Schmerzen, die bis in den linken Arm zogen. ‚Die Herzkranzgefäße, wo sind meine Tabletten’, fuhr es ihm durch den Kopf. Rechtzeitig fiel ihm ein, dass er gar keine Herztabletten nahm.
Derweilen strahlte Lia ihn an. „Scherz, nur ein Scherz, Papi. Ist alles nicht mehr so, wie bei euch früher.“
„Du hast keine Ahnung, wie das bei Mama und mir abgegangen ist, auf’m Festival“, entfuhr es Sven. „Wir haben eine Menge erlebt. Die 90iger waren ganz schön wild.“
„Klar“, murmelte Lia uninteressiert und checkte ihr Smartphone. „Damals war das sicher cool.“ Es klang, als würde sie von der Zeit vor den Kreuzzügen sprechen.
„Übrigens, Dad, kannst du mir was leihen?“
„Was dachtest du denn?“ Aha, die Papi Time war also vorbei.
„Na ja, vielleicht so 50 Euro? Ich habe nämlich ne eins in Literatur bekommen, für den Aufsatz über Henry James. Ist das nicht ne kleine Belohnung wert?“
„Du bist lustig, ich war der Ghostwriter!“
„Ja gut, aber ich musste das alles nochmal abschreiben, wegen der Handschrift. Was das ne Arbeit war.“
„Echt?“
„Echt!“
Das Handy klingelte. Lia guckte aufs Display, die Sonne ging in ihrem Gesicht auf. So, wie es damals war, als sie klein war und Sven am Abend nach Hause kam. Nun stand sie auf und ging an ihm vorüber, ohne ihn weiter zu beachten.
Sven seufzte schwer und stellte den Fernseher an.
© by Angie

  • Gut beobacht? oder gut er-funden, jetzt fehlt nur noch
    sone Scene mit der Mamma, ebenso humorvoll.

  • Hallo Uwe, sagen wir mal so – unsere Enkeltochter Lia wird bald 2 Jahre alt.
    Ihr Papa betont ständig, dass sie bis zu ihrem 18. Lebensjahr einen Strampler tragen wird und das alle Jungen doof sind …
    Er wird wissen warum …
    Lias Mama ist da sehr viel entspannter – sie wird wissen warum …

    Danke fürs Lesen und einen lieben Gruß
    Angie

  • Verstehe.Und sei herzlich gegrüßt.
    Uwe