Getarnt als Traum

Er hastete in dem Rohbau die Stufen hoch – ins oberste
Stockwerk – unterm Dach, der Boden, aus Beton, noch
ohne Estrich, das rechteckige Loch in der Mauer ohne
Tür, ein Balkon ohne Gitter. An den Stützbalken in der
Mitte war sie mit einem Seil gebunden, das Oberteil
des Kleids zerrissen, die Brustspitzen mit heißem Eisen
versengt.
Seine Starre löste sich, er lief zu ihr, fingerte ein Messer
aus der Tasche, öffnete es, sägte, unter Schweiß, Rotz
und Tränen am Strick, von unten drangen Stimmen,
Rufe, Stiefeltrappeln – er ist hier rauf! – das Messer entglitt
der Hand, er lief zum Balkon, erreichte ihn vor dem ersten
Verfolger, sprang nicht, lief über den Rand –
Im Sturz nahm er sich wahr als Kugel aus dünnstem Spiegel-
silber, zerbarst, lautlos, beim Aufschlag, die Splitter stoben
in Zeitlupe in alle Richtungen, und er sah in jedem Splitter
gleichzeitig sah er sich, ganz.

  • Wow,mal etwas ganz anderes von dir! Sehr intensiv, sehr eindringlich.