Klamm

Herr Fritz ging durch eine Fußgängerzone in Charlottenburg,
vielleicht könnte sie auch in Sonstwo liegen. Ein Auto, auf dessen
Dach sich ein riesiges Schwein breit gemacht hat, ein Schwein aus
Plastik, parkte hier, wohl mit Erlaubnis. Veganer drückten den Passanten
eine kleine Broschüre in die Hand. Herr Fritz warf einen Blick darauf
und kommentierte: „ Ihr kommt zu spät. Ich bin schon seit dreißig Jahren
Vegatarier.
Wenige Schritte weiter, auf einem Klapphocker, saß ein weißhaariger
Musiker, sang einen Country Song und begleitete sich auf der Gitarre.
Die Musik veränderte den Gang mancher Passanten.
Vor einem Eckladen ging ein Obdachloser auf und ab, er sieht immer aus
wie frisch gewaschen, dachte Herr Fritz, er strahlt, vielleicht hat er ein paar
Exemplare mehr als sonst von einer der Obdachlosen Zeitungen verkauft.
Herr Fritz nahm ein Exemplar und strebte zu einer Sparkassen-Filiale.
Ein Obdachloser trieb sich vor dem Eingang rum, öffnete Herrn Fritz die Tür,
als sei er mal Hotelportier gewesen.
Als Herr Fritz die Sparkasse verließ, drückte er dem selbsternannten Portier
eine Münze in die Hand. Ein Pärchen Rucksacktouristen kreuzten seinen Weg,
sie erzählten, sie seien etwas klamm. Herr Fritz drückte dem Sprecher die
erstandene Obdachlosen Zeitung in die Hand. betrat dann einen Buchladen
und rollte mit der Rolltreppe in den zweiten Stock, sein Ziel die Cafeteria, wo er
einen Tee bestellte. Er lagerte mit einer der ausliegenden Tageszeitungen in
einem Sessel. Die Zunge meldete Alarm: der Tee ist noch zu heiß! , die Schlagzeile
schlug zu, „ Der kalte Krieg noch eisiger geworden.“ Herr Fritz fühlte sich ganz
plötzlich fremd in seiner Haut
Er faltete die Zeitung zusammen, packte sie in einen leeren Rucksack und
rollte die Rolltreppe hinab zum Ausgang. Er fischte einen Zettel aus der Tasche, warf einen Blick darauf und eilte zu einem Lebensmittelladen, kaufte ein, verstaute die paar Waren in den Rucksack und vergaß beinahe zu zahlen. Er ging jetzt langsam, seltsam staksig – lehnte sich an eine Wand. Der Musiker auf seinem Hocker sang noch immer. Herr Fritz gelang ein bleiches Lächeln. Ihm kam es vor, als robbe er sich zurück zum Bahnhof. Er schalt sich, stell dich nicht so an. Eine Blumenverkäuferin streckte ihm einen Blumenstrauß zum Kauf entgegen, Musiker stimmten ihre Instrumente, stumme Bettler hockten hinter leeren Bechern, ein Betrunkener greinte und jemand saß wie geschrumpft, klein und still auf einem nackten Stein. Herr Fritz zog eine knautschige Börse aus der Tasche und leerte sie vor ihm.

Auf dem Bahnsteig wartet Herr Fritz, jetzt unter vielen, ihm wird von einem Mädchen,mager, mit hellroten Haaren, eine Obdachlosenzeitung angeboten.
„ Ich bin doch kein Millionär!“
Herr Fritz erschrickt vor seinem eigenen Schrei. Ist irritiert.
Das Mädchen mit dem roten Haar, in einem Frühlingskleid von vor zehn Jahren,
sagt: „ Verzeihung.“
Herr Fritz steht da, schwindlig, mit weichen Knien echot er: “Verzeihung.“

  • Eine schöne Pointe, die zum Nachfühlen anregt. Jeder kennt dieses Spannungsfeld. Geben, nicht geben? Wem geben? Wann ist die Grenze? Verdient der Musiker eher eine Münze als der Obdachlose?
    Kostet mich einige Zeit, die Geschichte, weil sie so lange nachwirkt.