Die Wohnung war aufgeräumt. Die Fenster frisch geputzt, obwohl das bei diesem Wetter wenig sinnvoll erschien. Seit Tagen regnete es und wieder rannen dicke Tropfen die Scheibe entlang. Greta saß in ihrem Lieblingssessel und schaute hinaus in den herbstlichen Tag. Mit der rechten Hand zupfte sie das Häkeldeckchen auf dem kleinen Beistelltisch zurecht, mit der anderen griff sie zur Tablettenschachtel. Abwägend hielt sie die Packung und legte sie zurück. Erneut blickte sie hinab auf die Straße. Passanten liefen eilig hin und her, mühsam den Schirm in den Wind haltend. Die Blätter taumelten durch die Luft und es schien ihr, als wäre der Wind heute stürmischer als in den letzten Tagen. Dunkle Wolken hingen tief am Himmel und würden auch noch in den nächsten Stunden für weiteren Regen sorgen. Greta war müde. Das Leben hatte sie müde werden lassen. Sie griff wieder nach den Tabletten, drückte alle Pillen durch den Blister und warf sie in das bereitstehende Wasserglas. Sorgfältig rührte sie so lange, bis Schlafmittel und Wasser eine milchig weiße Brühe ergaben. Greta setzte das Glas an die Lippen …
„Lass es sein, das klappt nicht!“, drang es an ihr Ohr. Beinahe hätte sie das Glas fallen lassen. Sie schaute sich im Raum um und befand, dass sie sich die Stimme eingebildet hatte. Erneut führte sie das tödliche Getränk zum Mund.
„Du wirst nicht sterben“, erklang die Stimme.
„Du kannst mir glauben. Ich weiß wovon ich spreche.“
„Wer ist da?“, Gretas Stimme zitterte und wieder suchten ihre Augen das Zimmer ab.
„Hier bin ich, gleich vor dir“, antwortete es aus dem Halbdunkel.
Nun erkannte sie die große, schlanke Gestalt. Der Fremde lehnte im Türrahmen, ein Bein vor das andere gesetzt, die Arme vor der Brust verschränkt, mit einem Grinsen im Gesicht.
„Wer sind Sie und was wollen Sie von mir? Wie sind Sie hier reingekommen?“
Greta hatte den Todestrunk abgestellt und musterte ihren Gast. Ihre anfängliche Angst war einer zunehmenden Entrüstung gewichen. Der Unbekannte lachte.
„Du hast mich gerufen – oder täusche ich mich? Du wolltest sterben, nicht wahr?“
Greta schluckte. „Ich habe Sie nicht gerufen. Und woher wissen Sie …?“
„Hallo? Jetzt mal langsam! Du wolltest dich gerade umbringen und das an meinem einzig freien Abend in diesem Monat! Wenn du mir versprichst, heute keine Dummheiten mehr zu machen, bist du mich sofort los. Ich kann meine Freizeit besser verbringen, als dir klar zu machen, dass ich bestimme, wann es so weit ist – nicht du!“
Die letzten Worte hatte er mit Nachdruck gesprochen. Jetzt erst bemerkte Greta die lässige Kleidung des Besuchers. Er trug sein Hemd halb offen und sie konnte deutliche eine Flammen-Tätowierung auf seiner Brust erkennen. Die dunklen Haare waren mit roten Strähnen durchzogen und standen stachelförmig vom Kopf ab. Seine dünnen Beine steckten in engen schwarzen Jeans, die deutlich verschlissene Stellen und Löcher aufwies. Um seine schmalen Hüften schlang sich ein breiter, blanker Metallgürtel, an dessen Enden lachende Totenköpfe baumelten. Sein Grinsen wurde noch breiter, als er bemerkte, wie Greta ihn musterte.
„Sind Sie der Tod?“, flüsterte sie.
Der Zweifel in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
„Na endlich geschnallt“, lachte ihr Gegenüber. „Du hättest gleich drauf kommen können.“
Greta versuchte, die aufkommende Unruhe mit tiefer Atmung zu kontrollieren.
„Ja …, aber …, ich dachte …, dass Suizid eine freiwillige Sache ist, die man selbst bestimmten kann“, murmelte sie, eher zu sich selbst.
„Und Sie habe ich mir ganz anders vorgestellt“, fügte sie hinzu.
„Mit dem Denken ist das so eine Sache. Du kannst das natürlich tun, letztendlich bestimme ich aber, ob ich Zeit habe. Und heute habe ich keine Zeit!“
„Aber, es begehen tägliche Menschen Selbstmord. Deren Zeit ist auch noch nicht gekommen“, setzte Greta nach.
„Ach, und wer sagt das? Manchen gelingt es und bei manchen geht es daneben. Woran mag das liegen? Eben … ! Ich kann mich nicht zerreißen. Und ab und zu muss ich entspannen“, entgegnet der Tod mit schnoddriger Stimme.
Mittlerweile war er näher gekommen und hatte sich ihr gegenüber in den Sessel gesetzt. Im
Licht der kleinen Tischlampe konnte Greta ihn nun deutlich sehen. Sie schaute in ein junges Gesicht. Seine rechte Augenbraue zierte ein silberner Ring und auch die Oberlippe war gepierct. Bei genauerem Hinsehen konnte sie einen, nur mäßig abgedeckten, dicken, Pickel erkennen. Mit einer schlaksigen Bewegung schwang er die Beine auf den kleinen Tisch. „Füße runter – sofort!“, fuhr Greta ihn an.
„Sagen Sie mal, Sie … Tod, haben Sie keine Manieren? So benimmt man sich nicht.“
Ohne zu zögern, nahm er die Füße runter.
„Sorry, man muss mit der Zeit gehen. Die Alten haben das Geld, leben gesund und werden immer älter. Die Jungen haben wenig Perspektiven. Du weißt schon: keinen Ausbildungsplatz, Hartz vier, Drogenexzesse, Komasaufen, viele Eltern sind kein Vorbild mehr. Eben die ganze Palette. Und das sind die gängigen Umgangsformen. Hab in letzter Zeit zu viele Junkies gesammelt. Eigentlich habe ich ja frei und wollte runter in die Disco. Was ist? Kann ich gehen oder denkst du noch daran, heute aus dem Leben zu schleichen?“
Er ließ eine riesige Kaugummiblase platzen. Greta war ohne eine Erwiderung in die Küche gelaufen und kam mit einem Putzlappen zurück. Energisch wischte sie den Tisch ab.
„Also, noch mal und es scheppert“, raunzte sie ihren Gast an.
„Ich denke, ich habe keinen Einfluss darauf, wann ich sterbe und Sie bestimmen das endgültige Ende.“
„Na ja, bei einigen, sehr wenigen, Menschen habe ich Schwierigkeiten. Es gibt Sturköpfe“, antwortete der Tod und seine Stimme klang ein wenig leiser.
Greta stemmte die Hände in die Hüfte. „Ich kann ja wohl erwarten, dass ich standesgemäß abgeholt werde. Lebt Ihr Vater noch? Dann schicken Sie den vorbei und richten Sie ihm aus, er soll Ihnen Anstand und Sitte beibringen.“
Der Tod stand auf, seine Augen weiteten sich und sein Unterkiefer klappte nach unten. Er holte tief Luft und dann lachte er, bis ihm die Tränen kamen.
„Wer? Wen? Meinen Vater?“
Er prustete so heftig, dass er sich verschluckte. Greta versuchte, ihm auf den Rücken zu klopfen. Ihre Hand glitt jedoch durch ihn hindurch.
„Sorry, ich bin nicht stofflich. Danke für die versuchte Hilfe“, stöhnte er immer noch lachend und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln.
„Meine Güte, so gut habe ich mich lange nicht mehr amüsiert. Der war gut – meinen Vater!“ Wieder schüttelte ihn ein neuer Lachanfall. Langsam wurde Greta bewusst, was sie gesagt hatte und schließlich musste sie lächeln.
„Mach, dass du in die Disco kommst, mein Junge. Für heute bin ich nicht mehr in Stimmung. Vielleicht sehen wir uns ja bald wieder“, sagte sie leise.
@ Monika Thaler (Paloma)