Ruhrpottadel
Prolog
Da sitze ich also vor einer langen Liste von Namen und Daten. Das ist er, der Stammbaum der Familie Jollenbeck.
Der erste im Kirchenbuch eingetragene Jollenbeck hieß Johann-Heinrich. In seinem Fall gibt es keine weiteren Informationen. Von seinem Sohn Peter ist wenigstens bekannt, dass er 1742 geheiratet hat. Der Name seiner Frau ist ungewöhnlich ‚Caer Bley‘. Vielleicht war das eine französische Hugenottentochter auf der Flucht?
HALT Angie, geht es noch? Wie soll eine solche Person wohl nach Niederzissen gelangt sein?
Der Name wird wohl eher auf einen Schreibfehler des Ortsgeistlichen zurückzuführen sein, als auf eine wilde – romantische Liebesgeschichte.
Blaues Blut ist auch nicht in Sicht, nicht mal ein oller, versoffener Raubritter.
Beim Anschauen der vielen Namen überkommt mich eine seltsame Melancholie. Sie viel Leben, so viele Menschen, die gelacht, geliebt, gelitten und gestritten haben. Die ihr oft viel zu kurzes Leben mit jemandem geteilt haben. Die Kinder zeugten, groß zogen, vielleicht vorzeitig zu Grabe trugen. Die glücklich waren und sicher zuweilen traurig.
Was bleibt?
Ein trockener Eintrag im Kirchenregister: Geburt, Eheschließung, Tod.
Es wäre vermessen die komplette Familiengeschichte zu erzählen und so erzähle ich nur einen ganz kleinen Teil der Geschichte, die auch meine ist.
1955-1973
„Da kommen meine Eltern mit dem neuen Kind!“ Peter, der auf dem Hof spielte, war ganz aufgeregt. „Mama, zeig doch mal her! Und wie heißt die noch mal?“
„Dein Schwesterchen heißt Elisa und wenn du sie sehen möchtest, dann musst du mit hoch kommen.“
„Och nö, da spiele ich lieber weiter.“ Peter fand die Schwester, die auch noch angefangen hatte wie am Spieß zu brüllen, recht hässlich und langweilig.
Ja, da war das neue Kind also, aber was war nicht alles passiert: Kalle und Ilse mussten feststellen, dass sich der Obst- und Gemüsehandel einfach nicht rentierte. So hatten sie schweren Herzens beschlossen, das Geschäft aufzugeben.
Da auf der Kokerei dringend Arbeiter gesucht wurden, bewarb sich Kalle dort und bekam tatsächlich eine Anstellung als Anlagenfahrer. Diese Tätigkeit lag ihm zwar gar nicht, ernährte aber die Familie nicht schlecht. Man zog in eine Zechenwohnung um, die aus einer Wohnküche und einem Schlafzimmer bestand. Die Räume waren groß, so dass Ilse, dem Modischen in jeder Beziehung nicht abgeneigt, im hinteren Teil der Küche zwei Cocktailsessel und einen Nierentisch unterbrachte. Das Ganze war zwar unbequem, aber modern. Die Toilette befand sich auf dem Flur und man musste sich den Raum mit den Nachbarn teilen.
Gebadet wurde einmal in der Woche in einer großen Zinkbadewanne die unten ganz nippelig war, so dass man nicht darin herumrutschen konnte, ohne sich den Podex aufzuschubbern. Zuerst ging der Hausherr in die Wanne, dann die Frau des Hauses und zuletzt die Kinder – die kleinsten ganz zuletzt. Das Wasser wurde im großen Einkochkessel auf den Kohleherd erhitzt und dann vorsichtig umgeschüttet.
***
Zwischen Karl und Ilse kam es zu heftigen Auseinandersetzungen. Karl, Zeit seines Lebens ein Schürzenjäger, hatte nicht nur mit Ilse, sondern auch mit Thea Kuhlmann ein Kind gezeugt und das fast zeitgleich.
Ilse und Thea hatten die gleiche Schule besucht, sich aus den Augen verloren und sich als verheiratete Frauen aus Zufall wieder getroffen.
Man traf sich zu viert, war sich sympathisch und feierte so manche Nacht durch, wobei sich auch Ilse und Hans Kuhlmann näher kamen. Allerdings behielten beide, eher phlegmatisch veranlagt, einen kühlen Kopf.
Bei Thea und Karl verhielt es sich anders. Die Beiden trafen sich heimlich wann immer das möglich war und hatten keinerlei Hemmungen. Oft ging Thea am Abend mit dem Vorwand ihrem Heinz noch Zigaretten zu besorgen aus dem Haus. Sie stellte sich unter das jollenbecksche Fenster und pfiff. Karl, allzeit bereit, hatte plötzlich keine Zigaretten mehr, oder musste unbedingt noch weg. Das Pärchen huschte dann für eine Quickie in die nächste Toreinfahrt und kam zwar meist ohne Zigaretten, aber zufrieden zurück nach Hause.
Das ging eine ganze Weile gut, bis Thea feststellte, dass sie schwanger war. Das stellte ein wirkliches Problem für sie dar, denn Heinz war nicht gerade sexuell aktiv zu nennen. Hinzu kam, dass er den Coitus Interruptus praktizierte und sich da völlig beherrschen konnte.
Bei einem klärenden Gespräch zeigte sich Karl nicht gerade von seiner besten Seite: „Was soll‘s, schließlich bist du verheiratet und wirst schon wissen wie du das hinkriegst. Jedenfalls ist es besser, wenn wir uns nicht mehr heimlich treffen!“
Völlig verzweifelt animierte Thea Heinz zu einer außerplanmäßigen Liebesnacht. Im richtigen Moment klammerte sie sich so fest an ihn, dass er gar nicht anders konnte. Diese Maßnahme verkaufte sie anschließend, auch ihrer Freundin Ilse gegenüber, recht gut: „Ich habe mir so sehr ein zweites Kind gewünscht, da musste ich den Heinz ganz einfach überraschen!“
Heinz machte eine gute Miene zum bösen Spiel.
Die Spannungen zwischen Thea und Karl waren nicht mehr zu übersehen. Thea machte Andeutungen, ließ spitze Bemerkungen fallen und giftete Kalle vermeintlich ohne Grund an. Der maß sie mit spöttischen Blicken und ließ alle Anfeindungen von sich abprallen. Ilse, Böses ahnend, stellte ihren Ehemann zur Rede und er gestand ihr den Fehltritt.
Völlig aufgelöst packte die betrogene Ehefrau ihren Koffer, nahm ihren Sohn an die Hand und flüchtete in die elterliche Wohnung. Adolf hatte, wie immer, keine Meinung, aber Anna blieb ihren Prinzipien treu: „Du wolltest diesen Mann haben, jetzt musst du dein Päckchen tragen, Kind. Du bist hochschwanger, willst du denn das Kind in Schande bekommen?“
Konsequent wie sie nun mal war brachte Anna ihre Tochter und den Enkel wiederHeim zu Karl, der erleichtert versprach so etwas nie wieder zu machen.
Das Kind, Werner, kam zwei Monate später als Elisa zur Welt und seine Mutter behauptete nie ein hässlicheres Wesen gesehen zu haben. Nicht nur, dass er einen schwarzen Haarflaum am ganzen Körper hatte, er wurde auch mit einem Wolfsrachen geboren. Beide Großmütter gerieten sich fürchterlich in die Haare, weil jede behauptete, dass es so etwas Hässliches wie dieses Kind in ihrer Familie noch nie gegeben hätte, das müsse doch wohl das Erbe der anderen Familie sein!
…….siehe auch www.ruhrpottadel.de