Dark

Schwarz wie ein mahnender Zeigefinger reckte sich das Schloss gen Himmel. Nera war noch nie an einem Ort gewesen, wo man so viel vom Himmel sehen konnte, aber um das Schloss des Grafen lag eine große Fläche brach, bevor die Reihen der Bäume wieder begannen.

An diesem Morgen war der Himmel grau und wolkenverhangen, nur ein kleiner Fetzen goldgelbes Sonnenlicht drang hindurch und beleuchtete das Schloss so, dass es noch gespenstischer wirkte. Es hatte keine Türme oder Erker und auch kein einziges Fenster konnte man entdecken. Es war einfach nur ein glatter, schwarzer Stein, der nach oben hin immer dünner wurde.

Die Mädchen, die mit Nera in der Kutsche waren, hatten nun ebenfalls mitbekommen, dass sie sich dem Schloss des Grafen vom Waldreich näherten, denn sie reckten alle neugierig die Köpfe aus dem Fenster und tuschelten aufgeregt.

Nur eine von ihnen blieb ebenso unbeeindruckt wie Nera. Sie war kleiner als Nera und hatte zartere Glieder. Ihre Haut schimmerte durchsichtig und ihr kurz geschorenes Haar war weiß wie Elfenbein. Ihre kleinen Augen glänzten blutrot im Dunkel der Kutsche. Sie sah aus wie ein Geist.

Vermutlich fürchteten sich die übrigen Mädchen deshalb so vor ihr. Nera war das schon aufgefallen, gleich nachdem sie eingestiegen war. Die Kutsche war klein und sie hatten alle wenig und Platz und doch hatten sich die drei anderen Mädchen Mühe gegeben, so viel Abstand von ihnen beiden zu halten wie möglich.

Ja, auch vor Nera waren sie zurückgewichen. Alle Menschen fürchteten sich vor dem, was anders war und im Waldreich waren dunkle Haut und blonde Haare üblich.

Nera dagegen hatte ein blasses Gesicht und mattschwarze Haare, die ihr bis auf die Schultern hinunterfielen. Sie war damit aufgewachsen, von allen Kindern in ihrem Dorf gepiesackt zu werden, während die Mütter ihr mit misstrauischen oder sogar ängstlichen Blicken nachschauten.

Vielen Kindern war es verboten gewesen, mit Nera zu spielen und so hatte sie früh lernen müssen, mit der Einsamkeit umzugehen. Sie hatte ihre Leidenschaft entdeckt, die sie aber nur noch unheimlicher vor den anderen dastehen ließ: Das Kämpfen. Stundenlang, Tag für Tag hatte sie hinter dem Haus ihrer Zieheltern mit einem einem rostigen Schürhaken allerlei komplizierte Bewegungen geübt, sofort nachdem sie ihre Arbeiten verrichtet hatte.

Mit der Zeit war sie für die Bewohner ihres Dorfes immer bedrohlicher geworden. Sie hatten sogar versucht, ihren Ziehvater zu überreden, sie wieder dort auszusetzen, wo er sie vor Jahren als Baby gefunden hatte. Aber er war hart geblieben, bis zum Schluss.

Und dann war der Tag der Auslese gekommen. Der Graf des Waldreichs – der Herr über alle Dörfer des Landes – ließ jedes Jahr aufs Neue aus jedem einzelnen Dorf ein Mädchen von 17 Jahren zu sich holen, damit es in seinem Schloss arbeitete. Die Auswahl dieses Mädchens blieb allerdings den Dörflern selbst überlassen. Offenbar ging es dem Grafen nicht darum, dass die Mädchen schön waren. Alles, was er wollte waren tüchtige Arbeitskräfte, die die harte Arbeit und die karge Kost in ihrer neuen Behausung so lange wie möglich überstanden.

Aus diesem Grund wählten die Dörfer des Waldreichs alle am selben Tag durch einen Mehrheitsbeschluss das Mädchen aus, das fortgeschickt werden sollte, und es war nicht schwer zu erraten, dass die Wahl meist auf hässliche oder beängstigende Personen fiel.

Die Bewohner von Neras Dorf hatten also schließlich doch einen Weg gefunden, sie loszuwerden und sie hatte den einzigen Menschen verlassen müssen, der sie jemals geliebt hatte – ihren Ziehvater.

  • Das macht Lust auf mehr. Schöner Einstand! 🙂

  • Ich hoffe es gibt eine Fortsetzung…