Straßenpoesie: Adler
Gemeinsam betrachteten sie die kreischenden jungen Vögel, die noch nicht flügge waren und vor Hunger schrieen.
“Meine Oma sagte immer, eine Adlermutter würde ihr Leben für die Kleinen opfern. Aber auch das Leben jedes ihrer Jungen riskieren, nur damit sie fliegen lernen. Als Kind habe ich das nie verstanden.” Sie sah ihn an.
“Und verstehst du es jetzt?” Er lachte. “Naja, ich denke, es geht darum, dass die Mutter ganz genau ihre Grenze kennt. Sie weiß, wie weit sie gehen muss, um aus ihren Jungen einen Adler werden zu lassen. Aber sie weiß auch um die Tatsache, dass sie ihren Zöglingen nicht jede Erfahrung abnehmen kann. Besonders manche der gefährlichen und schmerzhaften müssen die Kleinen selbst machen.”
Ein Geier landete auf dem Ast neben dem Horst und näherte sich den Jungen. Diese streckten ihm die offenen Schnäbel entgegen. Kurz bevor der Geier seinen riesigen Schnabel öffnete, um eines der Jungen zu fressen, schnippte er mit dem Finger. Der lange Hals des Geiers knackte und das Tier fiel am Horst vorbei in die Tiefe. “Manchmal aber müssen Instanzen wie wir eingreifen. Ohne, dass es der Schützling oder die Mutter bemerken.” Sie sah ihn an.
“Redest du immer noch von den Adlern oder von den Menschen?” Er lächelte, seine unsichtbaren Flügel warfen einen langen Schatten.
Songline
2. Mrz 2012
Adlermütter sind sehr klug, was die eigenen Erfahrungen ihrer Kinder betrifft.
Die Geschichte hat mit dem Fingerschnippen eine Wendung, einen Deus es machina. Dieser Punkt lässt den Leser nachdenken: War es gut? Eingreifen oder der Natur ihren Lauf lassen? Und wenn eingreifen: Wo ist die Grenze?
Da hallt der Text gut nach.
Schau mal im dritten Satz, da fehlen 1-2 Wörter.
Maultrommler
3. Mrz 2012
Der Deus ex machina war hier ein Mensch. In dieser Geschichte verdient er es, so genannt zu werden.Interessante Strassenpoesie, sollte anregen, sie auf der Strasse zu leben.
Was den 3.Satz angeht, brauchst Du bloß das 2. Wort ( sie) zu streichen und alles is ok.
Maultrommler
3. Mrz 2012
….auf der Strasse zu leben – natürlich ohne Knarre und ein Fingerschnippen wird dort allein nicht reichen.