Das Gutachten
Dr. Klops schaute aus rot geränderten Augen über seine Brille.„Wie war denn Ihre Kindheit?“, fragte er mit monotoner Stimme.
Sein Gegenüber, der zwanzigjähriger Simon Dankord, kaute intensiv auf einem Kaugummi und nuschelte: „O.k. Mann, so ganz stinknormal halt.“ Dabei rutschte er ein wenig tiefer in den Sessel und einen Moment sah es so aus, als wolle er seine Füße auf den Tisch legen. Überlegte es sich im letzten Moment anders und blieb in der halb hängen Position.
Der Arzt seufzte. „Herr Dankord bitte, Sie müssen mir jetzt alles sagen, sonst kann ich Ihnen nicht helfen. Ich soll ein Gutachten erstellen, damit man feststellen kann, ob Sie für ihre Taten verantwortlich sind. Also, noch mal, hat Ihr Vater vielleicht zu viel Alkohol getrunken? Oder hatte Ihre Mutter einen Freund?“ Er rieb sich die Hände und lies die Gelenke knacken, dabei sah er seinem Probanden fest in die Augen.
Der schüttelte nur gelangweilt den Kopf. „Nöö… meine Eltern feiern gerade Silberhochzeit. Und es sieht nicht so aus, als wenn sie sich trennen wollten. Die planen grade die nächste große Reise.“
„Simon, ich darf Sie doch Simon nennen? Haben Sie Probleme in der Schule? Sind Sie ein Außenseiter oder werden Sie vielleicht gemobbt? Haben Sie Angst vor dem Abitur?“ Die Stimme des Arztes überschlug sich fast.
„Nöö… ich bin Klassensprecher und Jugendjournalist der Schülerzeitung. Bin im Sportverein und hab‘ ne Menge Freunde. Und mein Abi hab‘ ich so gut wie in der Tasche – No Problem.“ Simon kaute deutlich hörbar weiter.
„Gibt es Geldprobleme? Ist Ihnen jemals Irgendjemand aus der Familie oder Verwandtschaft zunahe gekommen? Sie wissen was ich meine?“, stöhnte der Doktor.
„Nöö… Doc, meine Alten, sorry, ich meine natürlich meine Eltern, haben eine eigene Firma und ne große Villa. Na sicher, stöhnt Vater oft über die Wirtschaftskrise, aber der hat schon genug Kohle. Und nöö… wenn mir einer zunahe gekommen wäre – Sie wissen was ich meine -, dann hätte Vater ihn höchstwahrscheinlich eigenhändig umgebracht.“ Simon blies den Kaugummi zu einer großen Blase auf, die auch sogleich mit einem lauten Knall zerplatzte.
Dr. Klops zuckte zusammen. „Dann bleibt mir nur noch eine Option Simon, sind Sie irgendwann einmal zu Hause geschlagen worden?“
„Nöö… mein Vater hat mir beigebracht, dass man jeden Konflikt verbal lösen kann. Bei uns gibt es keine Gewalt.“
Dr. Klops startete einen letzten Versuch, mit jovialer Stimme sagte er: „Aber, sag mal was hast du denn so alles an Drogen versucht. Versuchen doch alle – nicht wahr? Bisschen Haschisch oder Heroin?“
Simon verdrehte die Augen. „Nöö … ich bin doch Sportler, hab‘ ich doch eben gesagt. Habens das nicht gecheckt Doc? Ich dope nicht!“
Langsam stand der Arzt auf und ging bedächtig um den Schreibtisch. Er blieb kurz vor Simon stehen und sah ihn durchdringend an. „Ich kann dir nicht helfen. Bei deiner Vergangenheit kann dir keiner helfen.“ Seine Stimme klang hilflos und er rang nach Luft. „So was ist mir in meiner ganzen Laufbahn noch nicht passiert! Sag mir nur eines.“ Hier holte er noch einmal tief Luft. „Warum? Warum, um alles in der Welt, bist du schwarzgefahren …“
@Monika Thaler
Songline
21. Nov 2010
Sehr schöne Pointe! Mir gefällt auch die steigende Verzweiflung des Psychodocs angesichts der Tatsache, den „Bösewicht“ nicht in eine Schublade stecken zu können, was nun sein ganzes theoritisches Wissen infrage stellt.
Mumpitz
22. Nov 2010
Klasse! Schon lange nicht mehr solch eine nette Satire gelesen!