Die andere Seite der Stadt
Die andere Seite der Stadt
OBEN
Erleuchten Skyscraper die Stadt,
werfen Schaufenster Lichter auf die Straßen,
wird Kaviar verzehrt, im Minutentakt
aus dem Champagnerglas getrunken
dabei mit vornehm übergeschlagenen
Beinen, gepackt in Markenstiefel
Über den Börsenanstieg diskutiert
Und darüber gesprochen, wer
Mit welcher Luxuslimo auf die nächste Party gefahren wird.
In die VIP-Lounge, versteht sich.
20 METER DARUNTER
Kauert Moritz im U-Bahnschacht,
seine Zähne klappern vor Kälte, während
sich die Nacht über die Stadt legt und
er mit zitternden Fingern die heutigen
„Einnahmen“ zählt.
Drei Euro Fünfundzwanzig reichen nicht für Alkohol
Und Zigarretten, die er zum Überleben braucht und
Etwas zu Essen hatte er auch schon länger nicht mehr.
Und einen Schlafplatz sowieso nicht und überhaupt trägt
Er seit fünf Tagen dieselben Klamotten,
unfähig, sich irgendwoher etwas Neues zu besorgen.
DAZWISCHEN
Stehen wir, Deutschlands Kinder.
Täglich wählen zwischen Geld spenden oder ausgeben,
tägliches Leben in einer Überflussgesellschaft, in der
es am Nötigsten fehlt.
Respekt, Anerkennung und Toleranz.
Lieber fünfmal die Woche Hummer anstatt Moritz,
der vor seinem Autounfall einen ordentlichen Job hatte,
zwei Euro zuzustecken.
Lieber im Geldrausch Rauschgold kaufen als mit offenen Augen
Durch Frankfurts Straßen zu ziehen und zu schauen,
wer es im Moment nötiger hat.
Vielleicht gibt es ja jemanden,
dessen Kühlschrank nicht so gefüllt ist.
Der nägelkauend am Hungertuch nagt, weil.
Wir werden es nie wissen, wir
Werden immer nur die Reichen sein, die Wohlhabenden in einem Land,
das von Tag zu Tag größer, höher, besser wird.
Dass dabei viele untergehn, interessiert nicht.
Dunkelzahlen werden überlesen, man ist auf Glamour aus.
Ist das wahrer Reichtum?
Oder gehören wir letztlich nur zu denen,
die mit geschlossenen Augen reich tun?
Copyright (c) Lisa Schregle 2012
Mumpitz
11. Okt 2012
„Skyscraper, who was your maker?“ (Rolling Stones).
Gerade letzte Woche habe ich eine Theaterpremiere gesehen, in der die Stadt ebenfalls von oben, unten und dazwischen betrachtet wurde, ganz anders zwar, aber dein Gedicht erinnert mich daran.
Wir selbst haben uns diese Welt gemacht. Die Wolkenkratzer kratzen am Lack des Himmels, der in den U-Bahn-Schacht bröselt. Und wir dazwischen stehen in dem Regen, können das Bröseln oben nicht verhindern, und das Verdrecken unten auch nicht.
Du klaqst auf eine erfrischende, jugendliche Art die Ohnmacht an, mit der wir den krassen Gegensätzen zwischen Arm und Reich gegenüberstehen. Wieder die Gleichgültigkeit, wie in deinem ersten Gedicht, wieder das Augenschließen.
Es ist gut, das es Auflehnung dagegen gibt, immer wieder neu, das macht mir Hoffnung.
LillyZuckerwattenkind.
11. Okt 2012
Echt, darüber gibts ein Theaterstück?
Wusste ich gar nicht.
Und ja, das ist eines der Themen, die mich am allermeisten beschäftigen und ich werde noch tausend weitere Texte darüber schreiben, weil ich sonst an meinen Gefühlen ersticken würde..und weil auch ich die Hoffnung nicht aufgeb 🙂
Maultrommler
12. Okt 2012
Die Hoffnug nicht aufzugeben, ist eine Kunst.In der heutigen Situation können/müssen wir uns darin üben. Du tust es mit diesem Gedicht. Inzwischen passiert etliches, aber es ist noch lange nicht genug.
Es gibt von dem Japaner Isssa folgendes Gedicht:
„In dieser Welt gehen wir
auf dem Dach der Hölle
und schauen die Blumen.“
Der schweizer Dichter Jaccottet, der meint, “ lange schon ist die Hölle an die Oberfläche unserer Welt gekommen“, hat über Issas Gedicht nachgedacht: „Vielleicht gibt es eine Verbindung und nicht nur einen Widerspruch zwischen Hölle und Blumen…“ Und man könne vielleicht so weit gehen, dass die Blumen lauter sprächen als die Hölle “ oder dass sie von dem sprechen, was den Sieg davontragen könnte über beide, Blumen und Hölle“.