• seefahrer postete ein Update vor 11 Jahren, 1 Monat

    Rezension: „Der Stimmer“ Mechtild Lichnowsky

    Durch eine Radiosendung des BR wurde ich neugierig und besorgte mir „Der Stimmer“ im Antiquariat, original von 1917.
    Und ja: Man kann es lesen.

    Oktoberluft zieht durch die Kirche mit dem Polster in der Tür, in der die Orgel eingestimmt wird, und zieht den Klavierstimmer Raymund Egger in sein Lieblingshaus, dem er von aussen ganz tolle Eigenschaften andichtet.
    In den folgenden drei Stunden, während er in einer Wohnung das Klavier stimmt, erfährt man ganz viel aus seinem Leben und seiner Gedankenwelt. Außerdem kommen und gehen die Bewohner, wollen ihm Dinge erzählen – er käme gar nicht mehr zum arbeiten vor lauter zuhören… Er spielt frei (möchte ein ebenso geachteter Musiker werden wie sein großer Bruder), erfindet Melodien und bewegt damit das ganze Haus. Sein Spiel ist Leben, nicht diszipliniertes Abspielen von Noten, das im Hause vorherrscht, und bringt die Gefühlslage der Bewohner in Rotation. „Nicht aufhören!“ heißt es deshalb immer. In diesem Gefühlskarrussell erfährt er auch, dass die Angebetete, Tochter des Hauses, ihn herbestellt hat, um seinem Bruder näher kommen zu können.
    So schön das Haus von aussen wirkte, innen tun sich familiäre und menschliche Abgründe auf.
    Nachdem das Klavier gestimmt ist, sind alle wieder mit sich beschäftigt. Ihm bleibt nur die Treppe. Und der Oktoberwind, der ihn herbrachte, schließt die Tür hinter ihm, bringt ihn (durch den gepolsterteten Türspalt) zurück in die Kirche – und den Tönen der (gestimmten) Orgel.

    Das war wieder mehr eine Zusammenfassung.
    Denn leider ist das Buch nur über Antiquariat erhältlich. Aber die Idee, falsche Moralvorstellungen durch drei Stunden Klavierstimmen auszuhebeln, so ganz ohne Action, war mir die Lektüre wert.