Dark (6)
Stunde um Stunde saß Nera da und beobachtete die Ruhe auf dem Platz vor dem Turm. Ihr Geist glitt hinüber in Erinnerungen, die erst ein paar Tage alt waren. Danach gingen ihre Gedanken immer weiter in der Zeit zurück, bis sie schließlich das Gefühl bekam, sich an das Leben einer anderen zu erinnern. Es hatte etwas Meditatives an sich, so regungslos dazusitzen und längst vergangene Zeiten wieder zum Leben zu erwecken.
Dabei war ihr bisheriges Leben alles andere als glücklich gewesen. Tatsächlich gab es nur eine Erinnerung, die in ihr so etwas wie Wehmut heraufbeschwor. Sie wusste selbst nicht, woher sie die Eindrücke und Gefühle jener Nacht hatte, denn zeitlich konnte sie sie nicht zuordnen, aber sie glaubte fest daran, dass diese Erinnerung etwas mit ihren Eltern zu tun hatte, ihren wahren Eltern.
Sie fühlte den weichen Stoff, als trage sie ihn auch jetzt noch am Körper. Sie lag im festen Griff zweier starker Arme und bewegte sich in rasender Geschwindigkeit durch den Wald. Ihr Blick war immerzu nur nach oben in die Baumkronen gerichtet, die wie dunkelgrüne Schlieren über den Himmel zogen und das Licht der Sterne bis auf einen kleinen Rest verborgen hielten. Sie hörte Stimmen, beide klangen gehetzt und verzweifelt. Sie sprachen schnell miteinander, aber Nera konnte nicht verstehen, was sie sagten. Das Bild änderte sich. Plötzlich tauchten zu ihren Seiten flache Reihen und schäbigen Holzhütten auf. Es war niemand zu sehen. Vermutlich schliefen sie alle längst. Der Griff um ihren kümmerlichen Körper löste sich. Noch einmal hörte sie kurz die Stimmen, die sich entfernten, aber sie bewegte sich nicht mehr mit ihnen. Im nächsten Moment hörte sie das Donnern schwerer Schritte, die sich aus dem Wald auf sie zubewegten.
Ein herzzerreißendes Jaulen riss sie aus ihren Träumereien. Kurz darauf folgte ein jämmerliches Winseln und das Hohngelächter der Wächter draußen. Nera lehnte sich so weit vor, dass ihr warmer Atem die Scheibe beschlagen ließ. Tatsächlich waren die Wächter in Aufruhr. Begeistert, wie kleine Jungen auf und abhüpfend, hatten sie einen Kreis um ein großes, pelziges Tier gebildet. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte Nera, dass es ein Wolf sein musste, obwohl dieses Exemplar um einiges größer war, als seine Artgenossen, die Nera schon einige Male im Wald gesehen hatte, oder wenn einer der Jäger ihres Dorfes einen getötet und als Trophäe mitgebracht hatte.
Dieser hier war kaum zwei Köpfe kleiner als die Wächter. Dennoch scheuten die Männer sich nicht davor, ihn mit Stöcken und Steinen zu bewerfen, um sich einen Spaß aus dem Leid des Tieres zu machen. Das dunkle Fell des Wolfs war zornig gesträubt und bei jedem Schlag der ihn traf stolperte er winselnd zurück. Doch die Wächter hatten einen Kreis um ihn gebildet, sodass er nicht entkommen konnte.
Neras Herz begann, zu rasen. Sie würden ihn so lange quälen, bis er sich ergab. Das durfte nicht passieren. Obwohl dieses Tier grauenhaft aussah und in jedem anderen Menschen tiefe Abscheu geweckt hätte, verspürte Nera nichts anderes als Mitleid.
Ihr Körper handelte wie von selbst. Sie verließ ihren Platz vor dem Fenster und ihre Füße bewegten sich mechanisch, aber unglaublich schnell Richtung Tür. Schon im nächsten Augenblick fiel die Tür wieder hinter ihr ins Schloss.