Der Tag des Eichhörnchens.

Der Klang der Melodie berührte die Seele des Eichhörnchens jedes Mal, wenn Maurice auf seiner Klarinette spielte. Unzählige Stunden seines Lebens, welches niemals die Ziellinie zu erreichen schien, verbrachte der Mönch in der Natur und jedes Mal war er aufs neue fasziniert, wie wunderschön sie war. Gefühle erfüllten ihn. Gefühle, die niemals durch Worte ausgedrückt werden können. Gefühle, die ihren Weg aus seiner Seele nur durch den Klang seiner Klarinette finden können. Die Melodie seiner Gefühle waren seine Verbindung zur Natur, seine Verbindung zu Gott.
In der Natur konnte er seinen Gefühlen freien Lauf lassen.
Kurz nachdem er seinen Weg in die Natur gefunden hatte, fand das Eichhörnchen seinen Weg zu dem Mönch. Zeit verging und das Eichhörnchen wurde ein guter Freund von Maurice. Und der Mönch erlebte ein weiteres Wunder des Lebens, als sein neuer Freund begann, einen einzigartigen Eichhörnchentanz zu tanzen. Der kleine Tänzer bewegte seinen Körper zu der Melodie des Mönches auf eine Art, welche Maurice noch nie gesehen hatte.
Aber jedes Mal, wenn der Mönch versuchte die wundersame Kreatur zu berühren, versagte er. Schnell wie der Blitz entzog sich der kleine Tänzer den Händen des Mönchs, sobald er dem seidenen Fell zu nahe kam. Aber obwohl das Eichhörnchen jedesmal aus der Reichweite des Mönchs sprang, sah er niemals ein Zeichen von Angst in den Augen des kleinen Wesens. Stattdessen schien der kleine Tänzer ihn anzuzwinkern und zu lächeln.
Also musste Maurice sich damit zufrieden geben, dem kleinen Tänzer zuzusehen, wie er zu seinen vertonten Gefühlen tanzte. Aber allein das war mehr, als der Mönch sich je gewünscht hatte. Denn sobald das Eichhörnchen tanzte, strahlte es solch eine Welle voller Vertrauen und Zufriedenheit aus, das auch der alte Mann selbst sich so gut und fröhlich fühlte wie noch nie zuvor.
Bald hatte Maurice einen Namen für das Eichhörnchen: Tiny Dancer.
Es war leicht für Maurice, jeden Tag seinen Lieblingsplatz zu besuchen, da er nichts anderes zu tun hatte. Er war der letzte seines Ordens und hatte das Kloster verlassen, um mit und in der Natur zu leben, in der Nähe seines Gottes. Das nächste Dorf war nur ein paar Kilometer entfernt. Manchmal ging er dorthin, um zu hören, was in der Welt passierte. Er war ein wohl bekannter, aber kaum besuchter Mann.
Aber an diesem einen Tag, als er musizierte und Tiny Dancer beim Tanzen zusah, hörte er plötzlich Schreie. Jemand war auf dem Weg zu ihm. Er stoppte sein Klarinettenspiel und ging zu seiner Hütte zurück. Das Eichhörnchen folgte ihm. Aber als die Hütte in Sichtweite kam, blieb Tiny Dancer stehen und der Mönch fühlte eine eiskalte Hand nach seinem Herzen greifen und ein Schauer überkam seinen alten Körper. Er keuchte auf und griff nach dem Baum, der neben ihm stand.
Noch ein Schrei voller Schmerz und und Verzweiflung durchfuhr den Wald. Der Schrei stach in seinen Kopf und berührte das Innerste seiner Seele. Er vernahm solch einen Schmerz in seinem Herz, dass er sich zwingen musste, weiter zu gehen.
Er erreichte die Hütte und fand eine Frau auf dem Holzboden seines kleinen Heims liegen. Je näher er der Frau kam, desto stärker war sein Wunsch, einfach umzukehren und wegzugehen. Aber nachdem er einmal mit so einem armseligen Wesen in Kontakt gekommen war, war es ihm unmöglich, die Frau ihrem Schicksal zu überlassen. Er kniete nieder und versuchte, sie zu beruhigen. Ihr Gesicht war bleich wie Schnee und voller Verzweiflung und Angst. Plötzlich griff sie nach seinem Arm und zog ihren Oberkörper hoch zu dem kniendem Mönch. Sie umarmte ihn mit ihrem zitternden Körper und Maurice erwiderte die Umarmung. Das Gesicht in der Kutte des Mönchs vergraben, begann sie zu weinen. Der Mönch hielt sie fest und blieb in der Position, bis sie sich beruhigt hatte. Sie hob ihren Kopf und sah den alten Mann mit ihren traurigen braunen Augen an.
„Helfen Sie mir!“
Der Mönch nickte langsam und sie schluchzte.
„Sie müssen mir helfen oder ich bin verloren.“
Maurice zog sie hoch und half ihr auf seine Strohmatte, die ihm zu schlafen diente. Er nahm seine Decke und packte sie damit ein. Dann brachte er ihr eine Tasse Wasser.
„Reines Wasser von Mutter Natur. Entschuldige, dass es so kalt ist.“
Sie lächelte erschöpft, nahm die Tasse und nippte daran.
„Danke.“
„Danke nicht mir, sondern ihr.“
Er drehte sich herum und zeigte auf die Natur außerhalb der Hütte. Dann setzt er sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden und sah sie an.
„Was ist los?“
Sie fuhr sich mit dem Arm über das Gesicht.
„Ich hatte ein glückliches Leben. Einen liebenden Ehemann und zwei Kinder. Ein süßes Zuhause und viel Freude. Ich lebte meinen Lebenstraum. Und ich dankte Gott, dass er mir dies ermöglichte. Und ich hoffte, dieser Traum würde nie enden. Aber dann war da dieses große Feuer.“
Sie schluchzte wieder.
„Und es nahm mir alles, was ich liebte. Mein Heim, meine Kinder, mein Ehemann und mein gesamtes Leben – alles war für immer verschwunden. Und in diesem Moment habe ich etwas verloren. Ich spürte einen starken Schmerz in meinem Herz. Ich fühle diesen Schmerz immer noch. Ich weiß nicht, woher er kommt. Niemand weiß es. Ich habe jeden Doktor besucht, jeden Heilpraktiker, ich habe hunderte Leute gefragt, aber keiner konnte mir helfen. Sie sind meine letzte Chance! Wenn Sie nicht fähig sind, mir zu helfen, muss ich mich umbringen, denn es ist unmöglich für mich weiter zu leben, mit diesem Gefühl in meinem Inneren.
Ihre Augen sagten dem Mönchen, das sie jedes Wort ernst meinte.
„Werden Sie mir helfen?“
Maurice starrte sie an und nickte dann langsam.
„Ich werde tun, was immer nötig ist.“
Ihre Augen leuchteten auf und ein erleichtertes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Sie bewegte sich nach vorne und und umarmte den alten Mann nochmals.
„Danke!“
Der Mönch hielt sie fest, aber er fühlte einen Hauch von Verzweiflung, die seine natürliche Fröhlichkeit überschattete. Er wusste nicht, wie er der Frau helfen sollte.

Tage gingen vorbei. Viele Tage. Maurice probierte alles, was ihm in den Sinn kam, um Josephine zu helfen. Er brachte sie zu seinem Lieblingsplatz. Er spielte die Klarinette für sie. Und es war das einzige Mal seit langem, dass Tiny Dancer nicht auftauchte, sobald der Klang durch das grüne Kleid von Mutter Natur. Was immer der Mönch versuchte, nichts davon konnte Josephine heilen. Verzweiflung wuchs und Maurices Kummer wuchs.
Nach wie vor verbrachte er viele Stunden des Tages alleine an seinem Lieblingsplatz und Tiny Dancer erschien und tanzte, aber das melodische Spiel hatte seine Faszination verloren. Maurice konnte sich nicht auf die Musik konzentrieren; seine Gedanken schweiften immer wieder ab und drehten sich um die Frage, wie er der Frau helfen konnte.
Eines Tages hörte er mit dem Spielen auf und starrte in die Natur. Das Eichhörnchen sah ihn schräg an. Die kleinen Pfoten bedeuteten ihm, wieder zu spielen, aber Maurice sah ihn nicht. Plötzlich sprang das Eichhörnchen fort, kletterte einen Baum hoch und verschwand in einem Loch. Als es zurückkehrte, hielt es etwas in seinen Pfoten. Es hüpfte direkt auf den Mönch zu, so wie es es noch nie getan hatte. Maurice sah Tiny Dancer an, der vor ihm stand und ihm die Pfoten entgegen streckte. Dann öffnete er die Pfoten und der Mönch sah, was in den Pfotenflächen von Tiny Dancer lag. Es war eine schwarze Murmel. Aber es war keine normale Murmel. Sie war total matt, keine Reflexion zeigte sich auf der Oberfläche. Aber obwohl die Murmel schwarz und matt war, leuchtete etwas in und um die Kugel herum.
Maurice legte seine Klarinette ins Gras und und bewegte seine Hand langsam Richtung Murmel. Dieses Mal blieb Tiny Dancer stehen und beobachtete Maurice. Er war, als fordere das Eichhörnchen ihn auf, die Murmel zu nehmen. Und Maurice nahm sie.
Als er die Murmel berührte, berührte ihn etwas tief in Inneren. Eine Welle von Energie warf ihn zurück, sein Augenlicht verschwand. Mit dem Rücken prallte er auf den Boden, seine Hände schnellten zu seinem Gesicht.  Er schrie, konnte aber seine eigene Stimme nicht hören. Langsam beruhigte er sich und öffnete seine Augen. Er war immer noch an seinem Lieblingsplatz. Aber etwas hatte sich verändert. Er sah sich um. Alles war vorhanden, aber alles war merkwürdig. Er bemerkte, dass die Vögel zwitscherten, aber er hörte sie nicht. Was er sah, war eine Farbe, die aus ihren Schnäbeln kam. Eine Farbe, welche er noch nie zuvor gesehen hatte. Aber der Anblick dieser Farbe erfüllte ihn mit der gleichen Freude, wie der Anblick der Natur es einst getan hatte. Er lächelte und bewegte seinen Kopf. Alles war von einem Leuchten bedeckt und verstand, dass alles nicht nur bedeckt war, sondern auch erfüllt von diesem goldenen hellen Schimmer. Es war wie eine Präsenz, die überall war. Es war Gott. Maurice erinnerte sich an einen alten Auschnitt aus dem Thomas -Evangelium.

„Das Königreich Gottes ist in dir und um dich herum.
Nicht in Häusern aus Stein oder Holz.
Spalte ein Stück Holz und ich werde da sein.
Hebe einen Stein und du wirst mich finden.“

Und er verstand, wo er war. Er war im Inneren. In der Natur, in sich selbst, im Inneren von allem. Fasziniert stand er auf und ging herum. Er kam zu einem Teich und sah hinein. Erst war er erschrocken. Dann war er fasziniert. Schlussendlich verstand er es. Der Teich zeigte ihm einen jungen Mann mit den selben tiefblauen Augen, wie Maurice sie hatte. Ihm fiel ein altes Sprichwort ein: Man ist nur so alt wie man sich fühlt.
Dieser Teich zeigte ihm ein Spiegelbild von sich. Aber es war nicht das normale Spiegelbild, welches man erwarten würde, es war das Spiegelbild seines Innenlebens. Das Bild seiner Seele, die aufgrund all seiner Zeit in der Natur jung geblieben war.
Er entdeckte die Murmel auf dem Boden liegen. Aber sie hatte sich genauso verändert, sie leuchtete nun strahlend hell. Sie strahlte, weil er auch ihr Inneres vernahm. Er war im Inneren. Und im Inneren von allem war Gott.
Plötzlich sah er eine Ansammlung von Licht. Es war wie die Quelle des ganzen Schimmers. Der Mönch überlegte, was dieses Licht in der „realen“ Welt sein mochte. Er versuchte, es zu berühren, aber es entglitt ihm.
Plötzlich fiel ihm etwas ein. Er sah eine dunkel gefärbte schmerzvolle Wolke, die aus seiner Hütte kroch. Er rannte zu seiner Hütte. Nochmals wurde er zurückgeworfen, diesmal von etwas dunklem und kaltem. Und er konnte den Ursprung erkennen. Es war Josephine. Er betrat die Hütte und fand die auf dem Boden liegend. Als er sie sah, wich er zurück. In ihr war kein Schimmern zu sehen. Kein warmes Gefühl kam aus ihrem Inneren. Sie war von Schatten bedeckt. Schatten, welche immer dunkler wurden. Und plötzlich wusste er, was Josephine verloren hatte. Sie hatte Gott verloren. Sie war allein und verzweifelt.
Das Feuer hatte ihr nicht nur ihren Mann, ihre Kinder und ihr Heim genommen, sondern auch ihren Glauben, ihr Vertrauen und ihre Liebe. Ihr Lebenswille war gebrochen. Nur ein Wesen im gesamten Universum konnte ihr helfen. Das eine Wesen, in das sie nun nicht mehr glaubte.
Der Körper der Frau zitterte noch stärker als am Tag, an dem er sie das erste Mal getroffen hatte. Der Mönch kniete sich zu ihr nieder und versuchte sie zu beruhigen. In dem Moment, in dem er sie berührte, sah er die Schatten zurückweichen. Der goldene Schimmer verteilte sich von seinen Händen über Josephines Körper. Er beobachtete, wie die Schatten langsam verschwanden. Der Körper zuckte unter den Händen Mönches zurück. Maurice erkannte, dass er nicht genug Energie hatte, um Josephine komplett zu heilen. Er spürte, wie er schwächer wurde. Also nahm er sie und trug sie aus der Hütte. Er brachte sie zu seinem Lieblingsplatz. Mit letzter Kraft kam er dort an. Er brach zusammen und legte sie auf den Boden. Er spürte seinen Körper älter werden.
Mit letzter Kraft griff er nach seiner Klarinette und begann langsam zu spielen. Anfangs war der Klang schwach, aber er wurde fester und lauter. Je länger er spielte, desto jünger wurde er. Plötzlich sah er wieder die Ansammlung von Licht. Während der Mönch spielte, spürte er eine Welle von Energie, die von der Quelle ausging und ihn erfüllte. Maurice griff nach Josephine und die Energie erfüllte sie genauso. Er spürte, wie Josephine sich beruhigte. Er stand auf und sah sie an. Jetzt war keine Dunkelheit mehr vorhanden. Josephine lag ruhig und friedlich auf dem Boden. In Maurices Herz wuchs das Gefühl, dass dies der Grund war, weshalb er hierher gebracht worden war, in das Innere.
Er drehte sich um und ging zur Murmel zurück. Auf dem Weg erblickte er zum letzten Mal die Ansammlung von Licht und wunderte sich nach wie vor, was es war. Er berührte die Kugel nochmal und kam auf dem selben Weg zurück in die „normale“ Welt, ein Energieschub warf ihn auf den Boden. Er begrub die Klarinette unter sich und zerbrach sie.
Tiny Dancer schrie schmerzerfüllt auf und sprang zu der Klarinette. Seine Pfoten bedeckten die Bruchstelle. Ein helles Licht blendete Maurice, er musste die Augen schließen. Als er sie wieder öffnete, war die Klarinette wieder ganz. Der Mönch erblickte Tiny Dancer. Das Eichhörnchen nahm die Murmel vom Boden, warf einen letzten Blick auf Maurice und verschwand mit einem Lächeln im Gesicht hinter einem Baum.

  • Ein sehr schönes Märchen – egal, wie man diese alles durchwebende Urkraft nennt. Ich habe es gerne gelesen.

  • Ja, mir gefällt es auch gut. Es ist eine Kopfkinogeschichte, leise erzählt, um in Stille aufgenommen zu werden.

  • Die druck ich mir aus und lese sie in Ruhe. Ist zu lang für das Lesen am PC, finde ich. Ich kommentiere später, wenn die Geschichte wahrscheinlich längst in den zugedeckten Seiten hier ruht. Aber macht ja nix, einmal geborene Zeilen sind ja unsterblich.