Mücke, die Großstadtlegende
Es ist der erste Morgen des Jahres. Die Sonne bricht den Zauber einer wunderschönen, glasklaren Nacht. Vier Menschen, der Jugend entwachsen, aber zu jung, um alt zu sein, versuchen, nach einer großartigen Feier ein Taxi für den Heimweg zu ergattern.
Es wird ein typisches gelbes Großraumtaxi eines deutschen Autobauers. Nichts besonderes, aber perfekt, um nach Hause zu kommen.
Peter, Paul, Johannes und Marie, sie kommen gerade von Mückes kleiner Party. Dem legendärsten Ereignis der ganzen Stadt.
“Wieso heißt diese Party denn Mückes kleine Party?”, fragte Marie. Sie war das erste Mal auf diesem jährlichen Happening. Sie hatte bisher nur Gerüchte über diese Party gehört und nun war sie sich sicher, dass all jene, welche die Gerüchte streuten, noch nie auf der Party gewesen waren. Denn sie untertrieben allesamt.
Am Abend zuvor, es fühlte sich an, als wäre es letztes Jahr gewesen, waren sie vor diesem unscheinbaren Gebäude im Westen der Stadt angekommen. Peter und Paul hatten Einladungen für die Party bekommen. Kleine Karten aus grauem Papier, beschrieben mit einer Schreibmaschine und unterschrieben mit “Mücke”.
Vor dem Gebäude saßen ein paar Menschen neben einer brennenden Öltonne am Eingang und spielten und sangen zu den Klängen des Gitarrenmannes. Der Gitarrist unterbrach sein Spiel, schlug mit seinem Fuß aber den Takt weiter. Er lächelte und blickte die Vier an.
“Guten Abend, Clemens!”, sagte Paul. Er schüttelte ihm die Hand und gab ihm dann die beiden Eintrittskarten. Clemens nahm sie entgegen und warf sie neben sich ins Feuer. Ein Mädchen neben ihm erhob sich und schob die Metalltür auf. Gerade so weit, dass die Vier hindurchschlüpfen konnten, ohne die Kleider zu beschmutzen.
“Das ist Clemens, der Fahrstuhlführer. Aber heute macht er den Türsteher”, klärte Paul Marie auf.
“Und wer sind die anderen um ihn herum?”, fragte Marie.
“Das sind Freunde und Fans. Nur weil er heute Abend arbeitet, heißt es ja nicht, dass er dabei keinen Spaß haben darf, oder?”
Er führte Marie, Peter und Johannes durch einen alten Umkleideraum, der jetzt als begehbare Garderobe für die Gäste fungierte. Eine letzte Tür und sie waren auf der Party. Sie standen im Erdgeschoss des Gebäudes. Alle drei Stockwerke waren durch breite Stahltreppen miteinander verbunden. Knapp die Hälfte des Gebäudes war eine offene Halle mit Galerien auf jeder Ebene. Man konnte von jeder Ebene aus nach unten in den Hauptraum blicken. Dort in der Mitte befand sich die Tanzfläche. Und erst jetzt realisierte Marie, dass es sich bei dem Gebäude um eine alte Schwimmhalle handelte. Was jetzt ein mit Holzboden ausgekleideter Tanzraum war, war vor langer Zeit mal das Becken gewesen. Im ersten Stock, etwa drei Meter über der tanzenden Menge war das erste Sprungbrett zur Kanzel für den DJ umgebaut worden. Diese war im Moment aber leer. Dafür spielte direkt am Rand des Beckens eine funkige Jazzband und heizte den ersten mutigen Tänzern ein. Peter nahm die staunende Marie am Arm und führte sie erklärend über die drei Ebenen bis ganz nach oben. Hier war die Musik nur noch leise hörbar, so dass man sich problemlos unterhalten konnte. Unterhalten wollte sich Marie aber im Moment nicht. Spätestens beim Anblick der Dachterasse war sie sprachlos. Beleuchtet von kleinen Feuern hatten sie einen atemberaubenden Ausblick auf die Lichter der Stadt und sie ahnte, was um Mitternacht bestätigt wurde: Es gab keinen besseren Platz in der ganzen Stadt, um die Feuerwerke zu bestaunen und zu feiern.
Johannes, er hatte auf dem Beifahrersitz des Taxis Platz genommen, drehte sich zu ihr um. “Naja, es ist Mückes Party, er veranstaltet sie jedes Jahr. Und dass es Mückes kleine Party genannt wird.”, er zuckte mit den Schultern. “Das ist seine Art.”
“Das muss ja ein ziemlich krasser Typ sein.”, sagte sie anerkennend. Paul beugte sich nach vorne und sah am schlafenden Peter vorbei.
“Du hast dich doch mit ihm unterhalten. Immer, wenn ich nach dir schauen wollte, hast du mit ihm geredet.”
Nach kurzer Zeit ließen Peter, Paul und Johannes Marie alleine. Sie waren nicht zum ersten Mal hier und kannten ein paar der weiblichen Gäste. Oder wollten sie zumindest kennenlernen. Marie lehnte am Geländer im dritten Stock, unter sich konnte sie das Getümmel der Party beobachten. Auf der anderen Seite sah sie die Terrasse, die bis jetzt fast nur von Rauchern besucht wurde. Das Sektglas, welches sie direkt am Eingang von Peter in die Hand gedrückt bekommen hatte, war leer und warm und sie hielt sich nur noch daran fest, damit ihre Hände beschäftigt waren. Sie sah den Mann auf der anderen Seite der Galerie von der Terrasse hereinkommen. Er lächelte ihr zu und ging über eine der Treppen nach unten. Sie lächelte zurück und während sie ihn auf der Treppe beobachtete, bis er aus ihrem Sichtfeld verschwand, überlegte sie, ob sie ihn kannte oder ob er nur freundlich gewesen war. Als sie ihn dann gedanklich hinter sich gelassen hatte, stand er plötzlich neben ihr. Zwei Sektgläser in der Hand. Das kondensierte Wasser perlte an dem eiskalten Glas. Er tausche ihr leeres Glas gegen ein neues, stieß mit ihr an und stellte sich vor.
“Martin ist Mücke?”
Paul und Johannes nickten. Peter schnarchte und sein Kopf plumpste auf Maries Schulter.
“Aber er hat mir gesagt, er kennt Mücke gar nicht.”
Martin hatte sie gefragt, wie sie auf die Party gelangt war und sie erzählte ihm von ihren Bandkollegen Peter und Paul und ihrem Songwriter Johannes. Während sie redete, suchte sie die tanzenden Menschen unten im Becken nach einem bekannten Gesicht ab, um sie Martin zu zeigen, aber sie fand keinen. Dann sagte sie, fast entschuldigend, sie selbst kenne Mücke gar nicht. Martin lachte laut auf und vertraute ihr dann an, dass es ihm manchmal auch so gehe, sie müsse sich gar nicht schuldig fühlen.
Paul lächelte und obwohl sie nicht das Gesicht von Johannes sah, ahnte sie, dass auch er grinste.
“Wie gesagt, das ist seine Art.”
Wenn Martin tatsächlich Mücke war, dann fand sie seine Art wundervoll. Er hatte fast die ganze Nacht mit ihr verbracht. Er war freundlich, unterhaltsam und intelligent. Sie hatten sich unterhalten und viel gelacht und niemals hatte sie sich bedrängt gefühlt oder gelangweilt. Wenn Martin aber Mücke war, dann hatte er sie die gesamte Zeit über belogen. Martin hatte erzählt, dass er eine kleine Wohnung in der Stadt hatte und Musiker war und davon ganz gut über die Runden kam. So hatte er es ausgedrückt. Von Peter und Johannes und den Großstadtlegenden aber wusste sie, dass Mücke über ein Vermögen unbekannter Größe verfügte und neben der Schwimmhalle auch weitere Immobilien in der Stadt besaß.
“Was ist seine Art?”
Wieder drehte Johannes sich auf seinem Sitz um.
“Zu untertreiben. Mücke führt das krasseste Leben, dass du dir vorstellen kannst. Wenn dir jemand etwas erzählt von einem Bekannten, der jemanden kennt, dem was unglaubliches passiert ist, ist die Chance hoch, dass Mücke dieser jemand war.”
Marie starrte ihn ungläubig an.
“Ach was, das glaube ich dir nicht.” sagte sie und schüttelte den Kopf.
Peter lachte.
“Hat er dir erzählt, was er für ein Instrument spielt?”
“Gitarre, hat er glaube ich gesagt” erinnerte sich Marie.
Peter nickte.
“Neben vielen anderen Instrumenten auch Gitarre und Bass. Erinnerst du dich, als vor ein paar jahren mal die Stones hier im Stadion gespielt haben? Mit AC/DC als Vorband? Am Tag des Konzertes hatte Ron Wood, der Bassist der Stones, sich verletzt und konnte nicht spielen. Dann ist Mücke für ihn eingesprungen.”
Marie tippte sich an die Schläfe.
“Du spinnst ja. Das ist doch nur eine Geschichte.”
Johannes zwinkerte.
“Genau das ist das Problem. Keiner glaubt ihm. Mücke passieren wirklich die unglaublichsten Geschichten. Aber immer, wenn er es jemanden erzählte, wurde er als Spinner abgetan. Deshalb hat er folgende Taktik: Er wollte zwar niemanden anlügen, aber so weit untertreiben, dass ihm die Leute zumindest glaubten. Und das zieht er seitdem erfolgreich durch.”
Marie war sich sicher, dass ihre Jungs sie gerade auf den Arm nahmen. Aber gleichzeitig ging sie den Abend und alle Aussagen von Martin durch. Und sie musste sich eingestehen, dass er vielleicht doch nicht gelogen hatte.
“Deshalb heißt er ja auch Mücke. Du kennst doch das Sprichwort: Aus einer Mücke einen Elefanten machen. Und Martin macht aus seinen Elefanten immer eine Mücke.”
Marie sah ihn schweigend an. Paul sprach einfach weiter.
“Mücke untertreibt immer. Wenn er dir mal sagt, du hast etwas gut gemacht, dann ist das ein Anzeichen dafür, dass du ein Meisterwerk abgegeben hast. Leider hat er diese Angewohnheit so verinnerlicht, dass er sich auch bei Frauen so verhält. Er schafft es einfach nicht mehr, die Wahrheit zu sagen. Selbst wenn er jemanden direkt heiraten wollte, kommt nicht viel mehr raus als… >>Schön, dich kennengelernt zu haben.<<. Und darauf reagieren die Frauen, dann nicht so sehr.”
Marie schwieg immer noch. Sie war gedanklich am Ende der Nacht angekommen. Zu ihr hatte Mücke nicht >>Schön, dich kennengelernt zu haben.<< gesagt. Stattdessen hatte er gesagt: >>Vielleicht sehen wir uns irgendwo nochmal wieder, das würde mich freuen.<<. Und bis gerade eben war sie davon enttäuscht gewesen.
Songline
4. Nov 2010
Eine sehr schöne Geschichte, die für mich vor allem zwei wichtige Aussagen hat:
Manchmal muss man die Wahrheit relativieren, damit die anderen sie glauben können. Das ist eigentlich traurig, denn es sollte möglich sein, die Wahrheit zu erzählen, ohne ungläubiges Staunen beim Gegenüber hervorzurufen. Gibt es so viele Zweifler, dass das nicht mehr möglich ist?
Das andere ist, dass man die Aussagen eines Menschen erst richtig einschätzen kann, wenn man ihn näher kennt. Das ist wohl in der Geschichte richtig, aber ich kenne einige Menschen, bei denen ich von Anfang an wusste, wie ihre Worte einzuschätzen sind.
Camòga C.J.
6. Nov 2010
Die Geschichte ist super, ich schließe mich Songline an. Für mich war dieser „Mücke führt das krasseste Leben, dass du dir vorstellen kannst“, ein Satz, bei dem ich dachte: „Der hat ja keine Ahnung.“ Aber so sind wir Menschen. Geiler Text, wirklich! Lese mal wieder bei dir vorbei.
faby Neidhardt
7. Nov 2010
Genau darum geht’s ja 🙂 Dass man Mücke eben nie glaubt. 😉
Mumpitz
7. Nov 2010
Sehr kurzweilig, muss ich auch sagen! Tja, wer sind wir Menschen eigentlich? Das, was wir tun, oder das, was andere in uns sehen, oder das, dessen Anschein wir uns geben? Auf jeden Fall ist mir so eine Mücke lieber als die Elefanten, die man als Luftballons entlarvt, wenn man hineiniekst.
Aber eins geht nicht, mein Lieber: Ron Wood war nach Bryan Jones und Mick Taylor der dritte Gitarrist der Stones neben Keith. Bassist war seit eh und je Bill Wyman, bis er aus der Band ausstieg. Da machst du nem alten Stones-Fan nix vor!
faby Neidhardt
7. Nov 2010
Dang… du hast Recht!