Juni 2010
Wenn er nicht ab und zu seine Hemden wechseln würde, könnte man meinen, er verbringe sein ganzes Leben in dieser Schenke. Wir treffen uns einmal im Monat und egal, ob ich pünktlich, zu spät oder gar eine Stunde zu früh komme, der blinde Mann sitzt immer am gleichen Tisch in der Ecke, seinen Rücken dem Eingang zugewendet, sein Glas direkt unter seiner Nase und beide Hände auf einem seiner zerlesenen Bücher.
Noch bevor ich ihm meine Hand von hinten auf die Schulter legen kann, richtet sich sein Rücken auf und wir beide spüren das Lächeln des anderen, ohne es zu sehen. Ich lasse mich auf die Bank ihm gegenüber fallen und bekomme von der Kellnerin mein Wässerchen vor die Nase gestellt. Wie jeden Monat. Wir heben unsere Gläser, ich stoße an seines an und wir nehmen einen Schluck.
Erst danach reden wir. Ich erzähle von meinen Erlebnissen der vergangenen vier Wochen, von meinen Begegnungen und meinen Gedanken. Er nickt, kommentiert und erzählt von seinen Freunden, Hesse, Tucholsky und Bukowski.
Bei unserem Treffen im Juni 2010 saßen wir gerade schweigend gegenüber, als plötzlich 11 Freunde in die Schenke polterten, mit den Landesfarben und den Trikots der Fußball Elf geschmückt. Nach der Bestellung hob einer der elf die Hand.
„Seid mal alle ruhig! Ich habe angesichts der aktuellen Ereignisse ein kleines Gedicht geschrieben.“
Die restlichen zehn sahen ihn erstaunt und anerkennend an und mitsamt aller anderen in der Schenke wurden sie ruhig. Der elfte zog einen gefalteten Zettel aus der Hose und begann, vorzulesen:
Jedes Land will der Sieger werden
und damit der Meister auf Erden.
Auf die Mannschaften starren Tausende,
auf die eigene und auf die Fremde
Am liebsten würden wir die lauten Geräusche ausblenden,
aber manchmal reihen wir uns ein zu den Schreienden.
Wir schauen, bei wem mehr fallen,
und in die Geschichtsbücher schreiben wir die Zahlen.
Während er schüchtern lächelnd in die die Beifall klatschende Runde sah und Schulterklopfen von seinen Freunden erhielt, beugte der Blinde sich vor zu mir und fragte leise:
„Von welchem Krieg spricht er?“
Songline
25. Jun 2010
Ja, der Sprachgebrauch bei sportlichen Wettkämpfen ähnelt oft dem eines Krieges. Bei Olympia finde ich es noch nicht ganz so schlimm, obwohl ja da auch von verlieren und gewinnen die Rede ist. Aber bei der Fußball-WM wird nicht einmal der Anschein erweckt, als sei Dabeisein alles. Hier geht es ums Siegen. Darum, die anderen zu schlagen.
Guter Text!
faby Neidhardt
25. Jun 2010
Danke 😉
Hulemule
26. Jun 2010
zu schlagen im wahrsten sinne des wortes (boxhieb im spiel italien – slowakei) …
sportliche wettkämpe (EM und WM) sind auch kleine kriege und es geht hier immer um nationale ehre. auch beim grand prix ist es so … nur im gegensatz zum grand prix gibt es beim sport keine alliierten, die sich gegenseitig punkte schenken.
mir gefällt der text auch sehr gut.
Songline
26. Jun 2010
Hule, das mit den geschenkten Punkte gibt es nicht mehr, seit die letzten Gruppenspiele zeitgleicht stattfinden. Vorher haben sich Mannschaften, die bereits wussten, dass sie bei einem Unentschieden für die nächste Runde qualifiziert sind, endlos langweilige 0:0 Spiele geliefert.
andim1973
26. Jun 2010
Top Geschichte die mich total begeistern konnte
faby Neidhardt
27. Jun 2010
@Andi: danke!
Mumpitz
28. Jun 2010
gern gelesen! Am schönsten finde ich die Szene, in der der Blinde und der Andere gegenseitig ihr Lachen spüren, aber nicht sehen können. Sie gelangen damit spielend auf eine Stufe.
koka
10. Jul 2010
Der letzte Satz, der reißt den ganzen Text in eine schier unfassbar andere Richtung und das nenne ich gelungen. Genialer Einfall!
faby Neidhardt
10. Jul 2010
Danke 🙂