Text: 20 Uhr beim Dicken
Sie kommt auf ihn zu, die Wangen gerötet, die Augen strahlend. Seit einer dreiviertel Stunde steht er am Treffpunkt in der Kälte und wartet auf sie. Unschuldig sieht sie ihn an.
“Ich bin zu spät.”, stellt sie fest.
“Ich hoffe, du wartest noch nicht lange.”
Sie hatten sich auf einer Party getroffen und für heute verabredet. Sie freuen sich beide, aber als sie sagte, dass sie Unpünktlichkeit verabscheue, erschrak er. Denn das war seine Schwäche. Aber für diese Frau, dachte er sich, werde ich alles tun, um pünktlich zu sein.
Er hatte sich ganz gegen seine Gewohnheit dazu entschlossen, den Wecker nicht zu überhören. Doch kurz bevor der Wecker klingeln sollte, blieb er stehen. Als er wider Erwarten pünktlich erwachte, schlang das Monster unter seinem Bett die Arme hervor und versuchte, ihn festzuhalten. Mit einem kräftigen Biss in das graugrüne Fell schaffte er es, sich zu befreien. Er zog sich an, sprang aus der Wohnung und stellte fest, dass sein Auto gestohlen worden war. Also schnappte er sich das Fahrrad. Was angesichts des Schnees und der Kälte eine dumme Idee war. Aber was tut man nicht alles, um der Dame seines Herzens zu genügen?
In hohem Bogen flog er über das Auto, welches er übersehen hatte. Er erwachte wieder im Krankenwagen, samt provisorischem Gips, und schrie und wollte herausspringen, bis sie ihn gewaltsam beruhigten. Als er sich endlich aus dem Krankenhaus geschlichen hatte, wäre er mindestens eine halbe Stunde zu spät gewesen. Also nahm er all seinen Mut zusammen und klopfte bei Professor Zapotec und fragte, ob er die Zeitmaschine benutzen dürfte. Nach zähen Verhandlungen und Darlegung der Geschichte willigte der Mann seufzend ein. So reiste er zurück und schlich zum Treffpunkt, er durfte ja nicht sich selbst begegnen. Nach einem kurzen Aufenthalt bei der Polizei, die ihn festhielt, weil er sich so komisch durch die Stadt bewegte, kam er gerade rechtzeitig am Treffpunkt an.
Und dann wartete er eine Dreiviertelstunde. Bis sie auf ihn zukommt, die Wangen gerötet, die Augen strahlend. Unschuldig sieht sie ihn an.
“Ich bin zu spät.”, stellt sie fest.
“Ich hoffe, du wartest noch nicht lange.”
Er sieht sie an, versteckt den Gipsarm hinter dem Rücken und lächelt.
“Wir scheinen ein starkes inneres Band zu haben. Ich bin auch gerade erst gekommen.”
Songline
4. Jan 2011
Der arme Kerl! Aber ich bewundere ihn, wie sehr er sich für die Dame seines Herzens abmüht.
Und sie? Also ich hätte ihn nicht warten lassen 😉
Schöner Text, den hab ich sehr gerne gelesen!
Mumpitz
6. Jan 2011
Am schönsten finde ich, dass er aufpasst, sich nicht selbst zu begegnen! Witzig die Geschichte! Aber Verliebte sind so bescheuert 😉