Ich kann jederzeit
Ohne Rückversicherung hätte er nie losgehen können.
Thomas hatte sich sein ganzes Leben lang einen Hinterausgang freigehalten.
Mit 16 Jahren und ein wenig Druck seines Vaters löste er die Band auf, mottete die Gitarre ein und begann die Ausbildung bei der Bank. Und er sagte sich:
“Ich kann jederzeit wieder eine Band gründen und von der Musik leben!”
Mit vorsichtigen Bewegungen zog er die Briefmarke aus dem Wasser und löste sie von dem Brief, mit dem sie gekommen war. Mit einem Schwamm trocknete er die Marke, dann sortierte er sie vorsichtig in das vierte Album seiner Sammlung. Und er sagte sich:
“Ich kann die Sammlung jederzeit ins Feuer werfen und mir ein neues Hobby suchen.”
Sie saßen bei ihr auf dem Bett und gratulierten sich zum ersten Jahr der Beziehung und ihre Augen leuchteten vor Liebe. Und er sagte sich:
“Ich kann mir jederzeit eine Neue suchen.”
Den festen Druck der Hand seines Vaters auf den Schultern spürend, unterschrieb er seinen Arbeitsvertrag bei der Bank und band sich damit für mindestens 5 Jahre an diesen kleinen Ort. Und er sagte sich:
“Ich kann jederzeit kündigen.”
Er blickte in ihre Augen, nickte, drehte sich zum Pfarrer und sagte zu ihm und zu allen Anwesenden: “Ja, ich will.” Zu sich selbst sagte er:
“Ich kann mich jederzeit scheiden lassen.”
Er riss mit einer eingespielten Handbewegung die zweite Packung des Tages auf und warf das Zellophan in den Straßengraben. Und er sagte sich:
“Ich kann jederzeit aufhören.”
Die Erde rieselte durch seine Finger auf den Holzsarg seiner Frau und er spürte das Schluchzen seiner Tochter auf seinem Arm. Und der dachte sich:
“Ich kann sie jederzeit zur Adoption freigeben.”
Er kam von der Arbeit nach Hause, löste die Babysitterin ab und bemerkte, dass jeder Tag genauso monoton ablief, wie der Tag zuvor. Und er dachte sich:
“Ich kann mir jederzeit meinen Rucksack und meine Gitarre schnappen, das alles hinter mir lassen und mit Wind im Rücken und Sonne im Gesicht ein neues Leben beginnen.”
Er schloss die Haustür hinter sich, tastete nach dem Schlüssel, zog die Riemen des des Rucksack fest und ging dann los. Er war kaum aus dem Gartentor draußen als er sich nochmal umdrehte und das Haus betrachtete. Er hatte sich Urlaub genommen, seine Tochter in die Obhut der Nachbarn gegeben und seine Briefmarken verfeuert. Er hatte sich seinen Rucksack geschnappt, alles andere hinter sich gelassen und begann mit Wind im Rücken und Sonne im Gesicht ein neues Leben. Und er sagte sich:
“Ich kann jederzeit zurückkehren.”
Songline
29. Apr 2011
Man sehnt sich immer nach dem, was man nicht hat. Oder meint, dass das Gras auf der anderen Seite des Zaunes grüner sei als auf der eigenen. Die wenigsten versuchen herauszufinden, ob das wirklich so ist.
Dass der Protagonist es zu einer Zeit versucht, da seine Tochter ihn braucht, finde ich nicht gut. Er hatte vorher Gelegenheit genug.
Toll erzählte Geschichte!
Mumpitz
2. Mai 2011
Ein interessanter Text. Wie man es macht, so macht man es verkehrt, fiel mir sofort ein. Man steht dauernd vor der Entscheidung, den einen oder den anderen Weg zu gehen. Wenn man das kapiert hat, trauert man den verpassten Gelegenheiten nicht mehr hinterher.
derschulz
3. Mai 2011
Der erste Satz ist stark.