Brief weit nach Mitternacht

Liebster

Mein Liebster

Würde ich dich einmal mehr fragen dürfen, wie es dir geht, ich würde dich tausend Mal fester an mich binden, als ich es im Leben tat. Ich suche immer noch nach einer besseren Ausrede. Ich vermisse dich. Ich weiß, es klingt wie die lapidare Wiederholung einer Verzweifelten. Du sagst: „Halt aus.“ Ich wünschte, ich könnte. Manchmal ertrage ich diese mitternächtlichen Gewissensbisse besser, was mir nichts beweist. Du würdest mir wahrscheinlich sagen, ich solle damit aufhören. Habe ich das je gekonnt? Die Nächte machen mir die Einsamkeit klarer. Immer wenn ich nochmal aufstehe, um zu rauchen oder um mich zu fragen, ob der Wein mir helfen würde, dass ich durchschlafe … wie dir der Scotch. Nein. Ich möchte nicht darüber nachdenken, wie gut oder wie schlecht mir das bekäme.

Mein Morphium reicht für die nächsten Tage. Mich betrinken, dich wegtrinken … will ich das? Natürlich nicht. Nur die Schmerzen. Nicht nur die meiner Sehnsucht, auch die, die meine Tumore mir machen. Ich wünschte, ich könnte … und wieder … nein. Das ist nicht wahr. Du lebst immer noch in meinem Gestern und für morgen habe ich deinen Lieblingssaft gekauft. Immer montags, wenn die meisten sich über den ersten Tag der Woche aufregen, regt sich in mir der leise Verdacht, dass du das nie getan hast. Was sage ich denn wieder für einen Blödsinn? Ich trage deine Socken auf und lege dir ein Hemd raus. Das ist mein Alltag. In meiner Liebe zu dir entdecke ich neue Blüten. Vielleicht trage ich deshalb leere Blätter bei mir. Ich möchte keinen Gedanken verlieren. „Warum“, fragst du, „sind sie dann leer?“

Weil ich sie nicht aufschreiben muss, my Dear.

Tage ohne Zorn

Tageins2

Nachbarin hat einen Pavillon aufgestellt, unter dem trocknet nun ihre Wäsche. Bei dem Regen, wie irisch deutsches Wetter ist. Meine trocknet in der Waschmaschine und ich weiß, sie wird nicht mediterran riechen. Gestern ließ mich mein Blick aus dem Küchenfenster einen neuen Baumbesucher erkennen. Ich weiß nicht, welcher Art dieser Vogel war. Vielleicht, weil er keinen Ton aus seinem Schnabel entließ. Noch während der Rauch meiner Zigarette ein Insekt verscheuchte, stülpte ich mir meine schönste Maske über und grinste den ganzen Tag. Es mag am Morphium liegen, dass ich so müde bin, doch träume ich mir reife Trauben in den Bauch und wünschte, ich sei ein blühender Holunderstrauch. Morgen wird mein Paradies andere Bilder werfen, die schicke ich dir in deinen Hafen, mein Schatz. Daraus mache bitte einen Anker. Ich komme bald.

Und miete mir einen Platz

Mond2

Ach du selbstverliebte Einsamkeit, du Brot für mein Herz. Ich erlebe die Nacht und miete mir einen Platz, gleich neben dir. Du schaust mich aus magisch grünen Augen an und sagst:
»Ach du selbstverliebte Traurigkeit«, und endest schier abrupt.
Wir sind ein gutes Paar, wie dieses, was ich letzte Woche in einem Schaufenster sah. Sie haben sich geküsst und gescherzt. Verträumt, wie ich bin, tat ich unaufmerksam, als betrachtete ich das Sofa im Angebot. Zu meiner Müdigkeit passt keine Stimmungsmusik. Die gute Laune liegt verstaut in einem Sarg.
»Denk‘ an die Rosen«, flüstert er, er, der sie nie mochte.
»Dass sie Stacheln tragen«, sage ich und lächle.
Die Nacht sitzt neben mir, lässt die Zeit um mich kreisen. Ich höre das Meeresrauschen, hauche gegen die Fensterscheibe und zeichne einen Delfin, der mich an Missbrauch erinnert.
»Der erinnert an einen Schwanz«, mahnt mich Frau Melancholie.
Ich hatte so lange keinen Sex mehr.

Alt

Alt

Ich bin so alt geworden. Ich sehe aus, als wäre ich aus mir herausgefallen. Diese neuen Falten. Meine Mundwinkel sind träge und marschieren in Richtung Kinn. Schlaff. Erschlafft, wie ich.

Da – in diesem Spiegel – das bin ich. Ich.

Wieder versuche ich ein Lächeln. »Lach«, ertönst du aus sicherer Entfernung, so, dass ich erschrocken um mich sehe. Raus aus dem Spiegel. Mein Retter, mein Held. Was soll ich dir sagen, außer: »Du fehlst«, mh?

Seitenleere

Mein Buch ist seitenleerer Blöße,
losgelöst von jeder Scham,
Buchstaben prägen sich ins
Gewissenlose, wirken in sich
tragend: lahm

Last thing of my mind

Weißt du, Dad,

es gibt tausend Dinge, die ich dir nie gesagt habe, weil ich nie die Chance dazu hatte. Auf Abstand ist es einfach, die Distanz zu wahren. Auf Abstand sind Worte leicht gesagt und noch leichter gedacht. Da sind so diese zig Wahrheiten. Ich habe sie alle vereinnahmt. So viele Rahmen, so wenige Bilder dafür. Reiht sich eins ans andere, bleibt es ein Puzzlespiel.
Da ist der Krebs. Er zeigt uns Menschen, dass wir nicht unkaputtbar sind und dass wir eben nicht alle Zeit der Welt haben, nicht mal so viel, wie andere glauben, dass sie sie noch haben.
Da ist der Krebs. Mir macht er keine Angst, nicht so wie dir. Ich suche nach Worten und wünschte, ich hätte sie – nur einmal – nur für dich. Vielleicht würde dir ein „doch Dad, ich liebe dich“ reichen. Vielleicht haben wir dafür noch die Zeit. Irgendwann, allein, ohne große Worte, für die ich stehe oder du. Du sicher noch mehr als ich.
Deine Tochter (wann sagte ich das je, mh?)

Die erste von 10.000 Seiten

Für Mumpitz dachte ich, und für Maultrommler, Songline und alle, die dies hier lesen. 10.000 Seiten sind eine Aufgabe. Meine teuflischen Kleingeister sitzen bereit und einer sagte:

„Nur 10.000, das ist doch Salat.“

Ich sehe auf den Tisch, auf dem das Abendbrot steht. Salat. Tatsächlich. Und ich ohne Appetit. Kaffee steht auch dort. Kaffee geht immer. Ich glaube, ich muss mich erheben. Dann mache ich das doch. Mein Liebster mochte meinen Bohnensalat. Ich weiß, ich war nie eine gute Köchin. Dafür weiß ich aber, wie man Tee zubereitet. Heute erfuhr ich, dass ich auf Diabetes untersucht werde. Das hätte mir ja jetzt noch gefehlt. Meine Spritzenphobie auf ein Minimum gebracht, sollte niemand Ängste unterschätzen 🙂

Ich werde nicht durchgehend jammern und hoffe, das stört euch nicht 😉

28.06.2014

Heute habe ich die Klinikumgebung aufgenommen, die so schön ist 😉
Schön ist relativ.
An manchen Tagen finde ich alles schön, an anderen, was ich schön fand – zum Kotzen.
Launische Silvi.

Ich wünschte ich könnte meine Gedanken fotografieren.
Zum Heulen sind die.

Ein Fischteich! „Da schwimmen Fische drin, dieselben wie die von Opi“, erklärte eine Omi ihrem Enkelkind. Ich stand daneben, zog an meiner Zigarette und dachte:

„War Opi hier und hat seine Fische in diesen Teich gekippt?“

21.22 Uhr
Wieder ein Tag fast geschafft. Ich denke tatsächlich über einen Buchtitel nach. Die Entscheidung fällt schwer. Ich schwebe zwischen:

1. Wie ich meine Mitpatientin erwürgte
und
2. Ich brauche ein Gänseblümchen

Der Tag war zähflüssig. Mein Großer war kurz da, wollte nachschauen, ob ich noch haltbar bin. Ich hatte meine Papiere im Kopf und einen Spruch, den ich verschwieg. Vielleicht habe ich gar kein Recht darauf wütend zu sein. Heute, gegen Mittag, dachte ich: „Leute, ihr braucht euch keinen Kopf machen, schont euer Gewissen, zumal ihr gar keins habt.“
Gott, was bin ich unfair.
Vielleicht sind Tote das.
Merknotiz für mein Tagebuch:
Ich brauche einen Waffenschein für meine dreckige Seele.

Dem Himmel sei Dank, wir haben einen Raucherpavillion,
wir sind doch im Paradies.

PS: Dann gibt es mich nicht mehr

Audio1

Cover = Link

»Stell dir vor, du erzählst sie mir«, sagte meine Freundin.
Sie meinte, meine Geschichte und taufte sie: »Ghostwriter«, was mir gefiel. Seit Tagen denke ich über einen Anfang nach und was ich überhaupt erzählen soll, will, kann. Die Grenzen sind so eng, beinah fließen sie ineinander über. Ich stelle mir vor, ich erzähle sie dir und ich erzähle sie genau einmal. Was geschrieben steht, bleibt. Wo es letztendlich bleibt, entscheide nicht ich, sondern du. Vielleicht kommst du mit. Nimm dir alle Zeit, die du hast, nur bedenke: Manchmal glaubst du, es wäre noch genug übrig, dabei hat der Tod nur vergessen sich anzumelden. Ich stelle mir vor, du würdest mich fragen:
»Was sind deine Lieblingsfarben und wo bist du zu Hause?«
Meine Antworten haben die Wenigsten interessiert, als hätten sie mich nach meinem Befinden gefragt und erwartet, ich sage:
»Gut, es geht mir gut.« Meist sagte ich das auch.

Irgendwie denke ich an August 2011. Ich bin mit meinem Mann spazieren gewesen, er hat Fotos von mir gemacht. Weißt du, er hat mich geliebt. Ich glaube fest daran. Nein, ich gehe noch weiter, denn ich glaube, niemand hat mich je so geliebt wie er. Ich habe ihn geliebt. Mit meinem Herzen. Das hört sich an, als sei es normal, aber das ist es nicht. Es gibt nicht mehr sehr viele Menschen, die mit dem Herzen gleichermaßen lieben wie mit dem Verstand. Nichts abwägen, keine Liste führen, keine Vorwürfe in den Raum stellen und stehen lassen. Wir haben uns geliebt.
»So einfach ist das«, höre ich ihn gerade.
Wahrscheinlich, weil er das stets sagte. August 2011, Sommer, der Monat, in dem ich Geburtstag habe, und jener, nach dem sich alles änderte. Die Fotos fand er so schön, wie er mich schön fand.
»Gut, dass du einen grauen Star hast«, sagte ich.
Wir haben beide gelacht, er zog mich an sich, nahm mein Gesicht zwischen seine Hände und sagte:
»Du bist schön, intelligent und die tollste Frau, die so einer wie ich nicht verdient hat.«
So einer wie er? Genau so einer. Ich schüttelte den Kopf. Das ist gerade so echt.

»Du sollst nicht über mich reden«, höre ich ihn, »erzähle deine Geschichte.«
Meine? Die ist so uninteressant. Sie stand in vielen seiner Texte, nur nie ganz. Wie ich nie ganz war. Durch ihn fühlte ich mich um Gefühle reicher. Aber ohne ihn weiß ich wieder, dass ich es nie war. Im September 2011 bekam ich die Diagnose ‘Brustkrebs’. Meinem Mann blieb fast die Bratwurst im Halse stecken, als ich aus dem Aufzug kam, weinte und sagte:
»Krebs.«
Das ist so ein Angstwort, oder? Beim ersten Mal schon. Es folgten Untersuchungen, dann wurde mir der Tumor inklusive Brust entfernt. Chemotherapie. Tabletten. Müdigkeit. Haare weg. Meine wunderschöne Mähne. Cortison. Ich wurde dick. Ich wog mal 63 Kilo. Nach dem Marathon waren es 86. Ich fühlte mich dick, ich sah dick aus, ich war und bin es. Mein Mann sagte:
»Du bist schön, dein Körper ist es, egal ob mit einer oder keiner Brust. Ich liebe dich, dich.«
Das tat so gut. Er berührte mich so sanft, so wie vor der OP, ich beobachtete seine Blicke dabei, er verzog keine Miene. Seine Hand lag auf der hässlichen Narbe und er sagte:
»Selbst die finde ich schön, weil sie zu dir gehört.«

2011 und 2012 habe ich gekämpft. 2013 wurde ich müde. 2014 starb mein Mann. Ich kann meine Geschichte nicht erzählen, weil ich nicht erzählen kann. Vielleicht bitte ich dich morgen nochmal, mich zu begleiten. Du sitzt da und fragst dich, wohin? Rück’ mal näher, ich flüstere es dir ins Ohr:

»Zwischen die Zeilen, bis ich schweige, dann gibt es mich nicht mehr.«

Ich habe wieder Krebs und ich freue mich – still

Keine Angst, ich weiß genau, wie sich das liest oder anfühlen wird. Als ich erfuhr, dass ‚er‘ zurück ist, breitete sich eine gewisse Demut in mir aus. Der Frieden, den ich mit mir gemacht habe, ist der beste, den ich bekommen kann. Gestern Abend habe ich mich gefragt, ob mein Mann noch immer in dem Torbogen steht und auf mich wartet. Er hat ‚ja‘ gesagt.

Schmerzen zu ertragen oder sie als Erlebnis wahrnehmen ist ein Unterschied. Ich beklage mich nicht, ich nehme Abschied.

Abschied