Wohin die Reise geht
Johannes verdrehte die Augen. „Du willst mich nicht verstehen, das ist für mich eine einmalige Gelegenheit, um hier raus zu kommen, um etwas von der Welt zu sehen: Glasgow“, genießerisch ließ er das Wort über die Zunge rollen.
Ich versuchte es noch einmal mit Vernunft und gesundem Menschenverstand. „Junge, die ganze Aktion verzögert dein Studium um mindestens ein Jahr, wenn nicht noch länger. Außerdem ist doch überhaupt nicht klar, wie du das alles finanzieren willst. Von uns kannst du nichts mehr erwarten, wir sind so was von blank …“
Diese und ähnliche Diskussionen hatten wir in letzter Zeit so oft geführt. Genauer gesagt, seit Johannes es sich in den Kopf gesetzt hatte, mithilfe des „Erasmus Programms“ sein Studium in Schottland fortzusetzen.
„Mach dir mal keine Gedanken, das schaffe ich schon irgendwie“, das klang fast trotzig. „Ich kann in Glasgow an der Uni arbeiten, das ist schon alles arrangiert. Ein Zimmer im Studentenheim dort habe ich auch schon angefragt und den Umzug kriege ich mit ein paar Kumpels zusammen hin.“
„Ach, dann brauchen wir ja wohl auch nicht mehr zu diskutieren! Du wirst schon sehen, was du davon hast. Wie kann man bloß so verbohrt sein!“
Mein Sohn musterte mich kurz. „Wer ist hier verbohrt?“ mit diesen Worten verließ er das Zimmer.
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Einige Wochen später:
„Da will der Bengel doch wirklich mit ein paar Pappkartons und Alditüten umziehen, unglaublich.“ Leise vor mich hin grummelnd erklomm ich die Treppe zum Dachboden, um nach einem vernünftigen Koffer zu suchen. Der Umzug ließ sich nicht mehr vermeiden. So hatte ich aufgehört zu argumentieren und fügte ich mich ins Unausweichliche.
A-ja, ganz hinten in der Ecke hatte ich vor Urzeiten einen alten, aber durchaus noch passablen Koffer verstaut. Aus Erfahrung wusste ich, dass mein Sohn fast alle ausgeliehenen Sachen gar nicht, oder in einem unakzeptablen Zustand zurückbrachte. Diesen Koffer konnte ich durchaus entbehren. Merkwürdig, das Teil schien seltsam schwer zu sein. Neugierig geworden setzte ich mich auf den Boden und öffnete den alten Koffer.
„Das darf doch nicht wahr sein“, entfuhr es mir, denn das Behältnis verbarg lang verschüttete Erinnerungen: Obenauf lag der Schlapphut. Ein schlammfarbenes, völlig deformiertes etwas. Darunter DIE Cordhose, auch schlammfarben, immer wieder enger gemacht, trotzdem völlig ausgebeult. Wie viele Diskussionen mit den Eltern hatte es wegen dieser Beinbekleidung gegeben. Lächelnd nahm ich die Fotos auf, schwelgte in Erinnerungen: Das „German Rock Festival“ in Dortmund. Wie lange war das wohl her? Das war … ja, richtig 1974. Da war ich so alt wie Johannes jetzt. Ich grinse dämlich in die Kamera, habe den Schlapphut (damals neu und mein ganzer Stolz) auf dem Kopf. Wange an Wange mit meiner besten Freundin, die Typen aus der Clique im Hintergrund.
Was haben wir für Pläne gehabt. Wollten die Welt verbessern, für den Frieden eintreten und dafür, dass alle Menschen gleich behandelt werden. Wollten den Hunger in der Dritten Welt bekämpfen und alle Kapitalisten enteignen.
Wollten Abenteuer erleben, das Leben in vollen Zügen genießen. Wir wollten alles – aber eines ganz und gar nicht: Niemals so werden wie die „Alten“. Niemals bürgerlich sein, niemals unseren Eltern ähneln.
Mit einem wehmütigen Lächeln legte ich meine Erinnerungen, bis auf eine, zurück in den Koffer. „Wann ist das bloß passiert“, dachte ich. Wann war ich so bürgerlich, ja spießig geworden? Hatte mich den Prinzipien meiner Eltern so sehr genähert. Hatte vergessen, dass ich die Welt verändern wollte und neugierig auf alles Neue war. Dass nicht Sicherheit für mich wichtig war, sondern Leben, Erleben …
Auf dem Weg nach unten fiel mein Blick auf den halb blinden Spiegel, der neben der Dachbodentür hing. „Es ist nie zu spät, um den Weg zu ändern!“ grinste mich das Spiegelbild an.
Entschlossen drehte Johannes den Schlüssel im Schloss um, gewappnet für eine neue Auseinandersetzung. Seine Eltern schienen überhaupt nicht zu verstehen, was ihn antrieb. Das er die Möglichkeit, die sich ihm bot am Schopf ergreifen würde, dass er leben, Abenteuer erleben wollte. Schließlich ging er ein kalkuliertes Risiko ein.
Aus dem Wohnzimmer schollen ihm ungewohnte Töne entgegen. „Born to be wild“, röhrte Steppenwolf in ungewohnter Lautstärke. Er öffnete leise die Tür und grinste ob des ungewohnten Schauspiels: Seine Mutter tanzte durch das Zimmer, einen merkwürdigen Schlapphut auf dem Kopf.
„ We were born, born to be wild. We can climb so high. I never wanna die…”
sang sie laut und falsch mit.
Grinsend applaudierte Johannes. „Klasse Nummer, Mom. Kannst du die noch mal von Anfang an bringen?“
Sie hielt mitten in der Bewegung inne, nahm langsam dem Hut ab.
„Schön das du hier bist. Wir müssen uns noch mal über Schottland unterhalten. Ich habe mit deinem Vater gesprochen und wir haben zusammen gerechnet. Wenn du das unbedingt durchziehen willst, dann werden wir unser Möglichstes tun, um dich zu unterstützen. Und sicherlich kommen wir mal vorbei, um bei dir nach dem Rechten zu schauen!“
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Angie Pfeiffer