Tränenmarsch

Aishas Sohn ist jetzt still. Sie küsst seine kühle Stirn. Stoffe hüllen den Kopf ein. Sie blickt auf. Die Straße ist ein rotes Band aus Leibern und Hitze. Blutige Füße wirbeln Staub auf. Die Luft riecht nach Rauch.
Parallel zum Weg verläuft ein ausgedtrocknetes von Unterholz und Dornenbüsche überwuchertes Flussbett. Dazwischen verwesen Tierkadaver – und Leichen. Der Anblick beschwört böse Erinnerungen in ihr auf. Sie schüttelt den Kof. Jetzt es ist vorbei – jetzt läuft sie. Nur darauf kommt es an.
Neben Aisha humpelt ein Mann vorbei. Das Gesicht von Brandnarben gezeichnet. Der bunte Rock des Mädchens vor ihr ist schmutzig und zerrissen. An der Innenseite ihrer Schenkel trocknet Blut. Kinder zerren an den Händen ihrer Mütter und betteln um Essen, das es nicht gibt.
Aisha spürt keinen Hunger, keinen Durst, ihr Körper ist stumm. Still wie die Rauchsäulen die am östlichen Horizont stehen. Eine davon markiert die Lage ihres Heimatdorfs.

Ein alter Mann folgt ihrem Blick. „Du bist aus Zaifa, nicht wahr?“
Sie starrt ihn an. Fliegen lecken seine Tränen. „Das gibt es jetzt nicht mehr“, sagt sie.
„Mach dir keine Sorgen.“ Der Alte bringt so etwas wie ein Lächeln zustande. „Bestimmt sind jetzt auch andere auf dem Weg zum Lager.“ Er meint das IDP-Camp – ein bisschen Hoffnung hinter der Grenze zum Tschad. „Du siehst deine Lieben wieder.“
Sie nickt. Weiß es aber besser: ihre Lieben existieren nur noch als böse Erinnerungen an Feuer und Schreie.
Ein Zittern bewegt die Luft.
„Was war das?“, fragt ein Mann und sieht sich misstrauisch um.
„Nur Donner“, erwidert der Alte.
„Bist du dir sicher?“
„Ich hoffe es.“
Aisha dringt das Grollen tief in den Leib. Sie erkennt das Geräusch. Die düsteren Jagdrufe der Dämonen. Und plötzlich spülen die Erinnerungen über den Damm ihres Verstands und verschlucken die Welt.

Eine stinkende Woge aus Dunkelheit raubte Aisha den Atem. Menschen schrieen. Menschen starben. Menschen verbrannten. Menschen wurden vergewaltigt. Und diese Menschen waren Nachbarn und Freunde, Verwandte und Familienmitglieder.
Zwischen den Flammen huschten die Schatten der Mörder dahin. Die Dschanschawid waren in Zaifa eingefallen. Und wohin die Dämonen auf Pferden, die Reitermilizen der sudanesischen Regierung kamen, blieb nichts zurück als Asche und Blut. Ein Helikopter schoss durch den Himmel. Irgendwo heulte ein schweres Maschinengewehr. Geduckt rannte Aisha weiter. Sie musste ihre Hütte erreichen. Musste ihr Kind retten. Sie bog um einen Bretterverschlag und blieb stehen. Direkt vor ihr waren zwei Dschanschawid!
Aber die waren zu beschäftigt, um Aisha zu bemerken. Die Mörder vergingen sich an Madari. Die Schwangere schrie, flehte und starb doch. Aber als sie ihr den runden Bauch aufschlitzten, war Aisha schon weitergelaufen. Immer vorbei an brennenden Hütten und Sterbenden, immer vorbei zu ihrem Sohn!

Schüsse! Schüsse zerfetzen die fruchtbaren Erinnerung und werfen Aisha in eine ebenso furchtbare Realität. Die Salven mähen durch die Flüchtenden, reißen Haut von Leibern und Arme von Schultern.
Aisha wirft sich ins Unterholz. Neben ihr kauert der alte Mann.
Ein Pickup rast heran. Männer mit Kalaschnikows stehen auf der Ladefläche und feuern auf die rennenden Menschen. Ein Mädchen will zur Seite springen – schafft es aber nicht mehr. Der Zusammenprall wirbelt sie wie eine Stoffpuppe durch die Luft. Sie schlägt hart auf. Die linke Schulter ist nur noch eine blutige Sauerei.
Aisha kann es nicht glauben – aber das Mädchen lebt noch. Versucht sich sogar aufzurichten. Nein, will Aisha rufen, bleib liegen, stell dich tot. Aber das Mädchen schiebt eine Hand unter den Körper und rappelt sich hoch. Einer der Regierungssoldaten sieht das, schlägt auf das Dach des Fahrerkabine. Während der Geländewagen schliddernd zum Stehen kommt, springen ein paar Männer ab und schlendern widerlich lässig auf das Mädchen zu. Es versucht wegzulaufen – bricht aber in einem Schmerzensschrei zusammen. Ihre Augen suchen verzweifelt nach einem Ausweg – und finden Aisha! Jetzt kriecht das Mädchen auf sie zu. Ein Gefühl wie erfrorene Panik fließt Aisha ins Herz, als auch einer der Soldaten auf das Unterholz aufmerksam wird.
„Er ist unsere Zukunft“, flüstert der Alte mit einem Blick auf Aishas Kind und im nächsten Moment springt er aus dem Graben und rennt auf die Regierungssoldaten zu. Erst scheint es, dass sie zu überrascht sind, um zu reagieren, doch dann jagen sie eine Salve heißen Tod in den tapferen alten Mann. Die Mörder lachen, als der Leib zuckt und bebt und schließlich zusammenfällt, als wären die Schnüre einer Gliederpuppe durchtrennt worden. Auf dem Weg zum Pickup erschießen sie ganz beiläufig das Mädchen. Dann rasen sie davon. Nichts als Blut, Leichen und Patronenhülsen bleiben zurück. Und eine Mutter mit der Zukunft des Sudans in den zitternden Armen.

Die Zelte haben die Farbe von getrocknetem Blut. Aisha steht in einer Flüchtlingsschlange. Es geht nur langsam voran. Irgendwann steht sie vor einem Kunststofftisch.
„Das ist das Lager J’Mala“, sagt eine Frau mit hellem Haar. „Sie und ihr Kind sind jetzt in Sicherheit.“ Die Frau steht auf. Will nach Aishas Sohn schauen. Aber die weicht zurück. „Es ist gut. Ich bin Ärztin. Haben Sie keine Angst.“ Aber Aisha kann sich eine Welt ohne Angst nicht mehr vorstellen.
„Bitte. Ich will nur sehen, ob es Ihrem Kind gut geht.“
Aisha lässt es geschehen. Die Ärztin schiebt den Stoff zurück. Lächelt das Bündel an, bis ihr Ausdruck mit einem Schlag zerbricht und ihr Blick schockiert zu Aisha zuckt.

Dort! Ihre Hütte stand noch. Sie warf sich gegen die Tür und hinein. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatten sechs Menschen hier gelebt. Jetzt waren alle tot. Alle bis auf Aisha … bis auf Aisha und ihren Sohn.
Sie schluchzte vor Glück. Nahm den Kleinen in die Arme, wiegte ihn, küsste seine heiße Stirn. Aber dazu war später Zeit. Lauf, trieb sie sich an. Beweg dich. Sie fand ein kleines Messer. Lächerlich, aber es gab ihr aber ein Gefühl von Sicherheit. Aisha wollte gerade aus der Hütte fliehen, als sie die Geräusche hörte. Dschanschawid näherten sich. Aisha wich in den Schatten zurück. In ihrem Kopf war nur noch schwarze Angst, Tränen aus Teer und Asche brannten in ihren Augen. Sie hatte doch gesehen, was die Dämonen mit Müttern machten! Jetzt waren sie an der Tür. Aisha drücke ihren Sohn ans Herz. Es schlug nicht mehr – es hämmerte. Schrie wie ein sterbender Engel. Aisha war krank vor Angst. Ihr Sohn aber war ganz still. Oh, was würden ihm die Mörder antun! Nein. Nein. Nein! So sollte es nicht enden. Nicht auf diese – ihre – Weise.
Das Messer zitterte in Aishas Fingern. Sie konnte nicht mehr atmen, musste nicht mehr atmen. Sie küsste ihren Sohn – dann machte sie ihm das schönste Geschenk, dass es in diesem verlorenen Land gab: Frieden.
Jetzt konnten die Mörder kommen.
Aber sie kamen nicht … sie gingen an der Hütte vorbei.
Einfach vorbei.

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Frank Haberland

  • Grausig schön, die spannende Art zu erzählen, die Pointe, die man nicht hören will, obwohl man sie schon kennt, es reißt einen fort! Danke dafür!