Der Fahrstuhl

„Halten Sie den Fahrstuhl auf! Bitte“, rief Paul Keel und legte einen Schritt zu. Aline Fahrenholz drückte genervt auf den „Tür schließen“-Knopf. Sie wollte endlich nach Hause. Wenn sie sich jetzt beeilte, konnte sie noch die Bahn erwischen. Sie ließ in Gedanken schon ihre Badewanne voll laufen. Paul drückte sich durch den Spalt der sich schließenden Türen. Er war keuchend hindurch geschlittert, fand sich aber einigermaßen gut in Form. Er wandte sich an die brünette junge Frau, die als einziger weiterer Fahrgast den Lift mit ihm teilte. Sie durchsuchte gerade ihre Handtasche und zog ein silberfarbenes Mobiltelefon hervor. Sie sah auf und traf auf Pauls Blick. Aline wurde einen kurzen Moment speiübel. Das war Paul, ihr gegenüber, sexy wie eh und je. Er war allein mit ihr und keine zwei Meter entfernt.

Die Kabine war groß, aber nicht groß genug, fand Aline plötzlich. „Hallo“, sagte sie unverbindlich und klappte das Handy auf. Kein Empfang. „Hallo“, sagte auch Paul. „Hattest Du schon gedrückt?“ fragte er dann schließlich. Aline starrte noch immer angestrengt auf das Display des nutzlosen Telefons. Sie schüttelte den Kopf und machte einen Schritt nach vorne. Gleichzeitig mit Paul drückte sie eine Taste auf der Tafel. Sie konnte nicht hinsehen, als ob ihr Gehirn jegliche Leistung verweigerte, wenn Paul in ihrer Nähe war. Paul drückte „Erdgeschoss“, während Aline wahllos auf so gut wie alle Knöpfe drückte und sich dann schnell umdrehte. Der Aufzug setzte sich ruckelnd in Bewegung und sie stopfte ihr Handy zurück in die Tasche.

Sie hatte gerade das Wegpacken des Telefons bis zur letzten, unauffälligen, Sekunde ausgereizt, als der Aufzug abrupt zum Stehen kam. Es wurde dunkel, aber sofort sprang eine Notbeleuchtung an. Aline betrachtete sich in dem Spiegel an der gegenüberliegenden Wand. Im Neonlicht wirkte sie fast unnatürlich blass, ihr dunkles Haar ließ sie noch ungesünder aussehen. Unterdessen drückte Paul alle möglichen Knöpfe auf der Schaltfläche. „Nichts“, sagte er dann und schlug resigniert mit der flachen Hand auf die Wand. „Der Notrufknopf?“ fragte Aline leise. Ihr war mit einem Mal übel. Sie musste sich setzen. Pauls Antwort – „Auch nichts“ – hatte sie gar nicht gehört. Er sah sie besorgt an. „Alles klar?“ Aline machte eine unbestimmte Kopfbewegung. Paul ging vor ihr in die Hocke. „Nicht, dass Du noch ohnmächtig wirst?“ hakte er nach. Damit nämlich würde er nicht fertig werden. Die Situation war unangenehm genug, und Aline musste sich sicherlich genauso fühlen, wenn nicht sogar schlimmer. Aline nickte: „Alles okay“, sagte sie mit trockener Kehle.

Unnötigerweise dachte sie an die Bahn, die sie jetzt verpasste. Das mit dem Schaumbad konnte sie heute wohl auch vergessen. Sie musste lachen über diesen blöden Gedanken. Paul sah sie schockiert an. Sie kicherte. Er warf einen Blick auf sein Handy. „Kein Empfang“, sagte Aline und machte eine wegwerfende Geste. Sie hatte sich wieder einigermaßen im Griff, aber die Situation erschien ihr zu abstrus. „Ich kann so kleine, geschlossene Räume nicht ausstehen“, sagte sie. Paul setzte sich neben Aline, aber er ließ einen großzügigen Abstand zwischen ihnen. „Naja, es ist kein Fünf-Sterne-Hotel“, sagte er und es sollte scherzhaft klingen. „Aber Du kommst wirklich klar?“ fragte er. Aline fand, dass er tatsächlich besorgt klang. Ihr war lediglich nicht klar, ob er die Situation im Fahrstuhl meinte. Eine weitere unbestimmte Bewegung. „Nein, ich komme nicht klar!“ wollte sie rufen und an Pauls Brust trommeln. Aber sie schluckte nur schwer und schwieg.

Paul klopfte unruhig mit den Fingern eine Melodie auf den Boden, die nur er kannte. Aline lehnte den Kopf an die metallisch-kalte Wand. Die Kühle tat ihr gut. Sie fühlte sich erstaunlich beruhigt. Etwas in der Berührung der Platte erinnerte sie an ihre Kindheit. Wie lange war ihre Mutter nun schon gestorben? fragte sie sich und seufzte schwer. Paul unterbrach seine Sinfonie und drehte sich, fragend eine Augenbraue gehoben, in Alines Richtung. Er sah sie einfach nur an. Aline hatte die Augen geschlossen und den Kopf in den Nacken gelegt. Er sah sie im Profil. Paul musste schwer schlucken, als er realisierte, wie schön Aline in diesem Moment war. „Du sprichst nicht mehr sehr viel“, stellte Paul fest und unterbrach ihre krampfhaften Erinnerungsversuche. Er wollte etwas sagen; irgendetwas. Aline öffnete überrascht die Augen. Sie sah Paul anFragend blickte er sie aus seinen honigbraunen Augen an. „Ach Paul“, sagte Aline traurig. Am liebsten hätte sie ihm gesagt, woran sie gerade so verzweifelt gedacht hatte. Am liebsten hätte sie ihm gesagt, was sie das ganze vergangene Jahr über so verbissen versucht hatte, zu vergessen. Stattdessen sagte sie nur umso trauriger: „Was hätte ich Dir noch zu sagen?“.

Paul zuckte merklich zusammen. Aline hatte das so gar nicht gemeint. Erst nachdem es ausgesprochen worden war, wurde ihr klar, wie hart es in seinen Ohren geklungen haben mochte. Aline unterdrückte die impulsartige Bewegung, mit der sie nach ihm greifen wollte. Es würde nur wieder alles von vorne beginnen. Dazu hatte sie keine Kraft mehr. „Entschuldige. Ich habe etwas Anderes gemeint“, sagte sie leise, weil sie spürte, dass sie Paul gekränkt hatte. „Meine Mutter ist gestorben“, sagte sie weiter. Er zuckte erneut zusammen und Aline ärgerte sich über das Ausgesprochene. „Wann?“ fragte er mitleidig, aber er sah sie nicht an. Aline winkte ab. „Ich weiß es nicht mehr. Vor Jahren, vor vielen Jahren, irgendwann. Ich weiß es einfach nicht!“. „Es tut mir leid“, sagte er schließlich. Und er meinte es so, nicht nur im Bezug auf Alines Verlust. „Sie lächelte: „Ich frage nicht mehr nach dem Sinn von Dingen“. Paul nickte.

„Ich habe Dich neulich in der Stadt gesehen“, sagte er dann. „Wirklich? Wann?“ fragte sie interessiert. „Warum hast Du nicht Hallo gesagt?“ wollte sie weiter wissen, obwohl sie es bereits wusste. „Ach, nein, Du ziehst es ja vor, nicht mehr mit mir zu sprechen“, fügte sie garstiger an, als sie eigentlich wollte. „Als ob ich Dir irgendwas getan hätte“, murmelte sie. „Du warst nicht alleine“, stellte er fest. „Das war Andreas“, sagte Aline. Sie war zu müde, um mit Paul zu diskutieren, aber sie war auch zu müde, immer nur zu schweigen. „Und, liebst Du diesen Andreas?“ bohrte Paul weiter, weil er es von ihr hören wollte. „Was geht Dich das an?“ entgegnete sie. „Ich .. ich will es einfach wissen“, sagte er trotzig. „Als ob Du ein Anrecht drauf hättest, zu wissen, was in meinem Leben vor sich geht. Das hat Dich damals auch nicht interessiert“, sagte Aline. „Das habe ich. Es geht um Dein Glück. Und ich kann ja wohl helfen, dass es Dir gut geht“. Aline schnaubte, sprang abrupt auf und baute sich, die Hände in die Hüften gestemmt, wütend vor Paul auf. „Das war Dir vor einiger Zeit noch nicht so wichtig. Du, Du bist so ein Egoist!“

Paul stand auf und machte einen Schritt auf sie zu. Er wollte sie an den Schultern packen, in eine Umarmung ziehen, sie küssen, bis ihnen beiden schwindelig war. „Wenn Du mich jetzt anfasst, dann kommst Du aus diesem Fahrstuhl nicht mehr lebend raus“, zischte Aline. „Andreas?“ fragte er und Aline ersparte sich eine Antwort. „Er liebt Dich nicht“, stieß Paul zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Oh Paul! Als ob Du zu mir von Liebe sprechen solltest“, rief Aline und warf dabei die Hände anklagend in die Höhe. Paul verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich sollte vielleicht nicht den ersten Stein werfen, aber, ja, in diesem Fall kann ich zu Dir von Liebe sprechen“, sagte er. Es war Aline aber tatsächlich egal, ob Andreas sie liebte oder nicht. Sie selbst hatte kurz nach diesem Stadtbummel, von dem Paul sprach, mit Andreas Schluss gemacht, aber das musste Paul nicht wissen. „Na, wenn es um Lieblosigkeit geht, bist Du ja Experte“, sagte sie. Er war es gewesen, der auf Alines Liebesgeständnis damals nicht reagiert hatte. Das war feige und unfair gewesen, das war Paul mittlerweile klar. Noch nie war Aline so verletzt und einsam gewesen. Sie hatte noch nicht einmal ein Warum von Paul gefordert, nur seine Freundschaft. Als Paul allerdings stumm geblieben war, hatte sie versucht, sich eine neue Existenz ohne ihn und ohne Gefühle für ihn aufzubauen. Es war Aline mehr oder weniger gut gelungen; so wie es Paul gelungen war, Aline mehr oder weniger zu verdrängen. „Es ist vorbei, Paul“, sagte Aline. Sie wusste nicht genau, was sie meinte: Es gab viele Möglichkeiten.

Noch während sie sprach, fuhr der Lift ruckelnd an. Die Beleuchtung sprang wieder auf Normalbetrieb und nur wenige Sekunden später sprangen die Türen auf. Aline raffte ihre Tasche an sich und ging an Paul vorbei, hinaus in den Abend. „Vielleicht im nächsten Leben“, dachte sie. Möglich, dass sie es auch laut sagte, denn Paul nahm sich vor, Aline im nächsten Leben zu finden und so zu lieben, wie sie es verdiente. Blind folgte er Aline in den Abend. Die kalte Nachtluft raubte ihm den Atem. Aline war schon nur noch als ein dunkler Schatten auszumachen, der davon ging in ein anderes Leben. Pauls Augen konnten sich nicht an die Dunkelheit gewöhnen. Es war ihm alles zu eng, die Luft blieb ihm weg. Er wollte Aline folgen, aber sein Herz machte einfach nicht mit.

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Marissa Conrady