Neulich bei Vollmond
Sandra war wieder einmal genervt. Mama und Papa waren in der Küche und schrieen sich an. Mama ist viel in der Arbeit, kommt oft gereizt heim. „Stress in der Arbeit“ nennt sie das immer. Papa kommt meistens später heim als Mama. An manchen Tagen sieht sie ihn abends gar nicht, da sie schon im Bett ist wenn er heimkommt. „Stress in der Arbeit“ nennt er das.
Auch heute sah sie ihn nicht. Dass er daheim war, merkte sie erst als sie aufwachte, weil Papa und Mama sich stritten. Sie verstand nicht warum sie sich so oft stritten, aber es machte ihr Angst.
Der Mond leuchtete in ihr Zimmer, zog sie magisch an. Mama schrie Papa an, ein Gegenstand flog gegen die Wand. Sandra hatte endgültig genug davon. Im hellen Mondschein konnte sie ihre Strickjacke finden und ihre Schuhe anziehen, ohne das verräterische Licht anknipsen zu müssen. Leise, ganz leise und langsam, öffnete sie ihr Fenster und kletterte aufs Dach. Nun konnte sie keiner mehr aufhalten. Der Abstieg vom Dach war ihr ein Leichtes, denn sie ist ja schon ein großes Mädchen. Schließlich war sie schon acht und würde nächstes Jahr zur Kommunion gehen.
Wie sie so um die Häuser ging, immer dem Vollmond folgend, wurden ihr die Füße schwer und sie setzte sich auf eine Bank. Ein fremder Mann kam vorbei, fragte ob sie sich verlaufen hätte. „Nein“ entgegnete sie keck, „ich geh’ zum Mond. Mama und Papa streiten sich nur.“
Der Fremde musste schmunzeln: „Soso, zum Mond willst du? Da hast du dir aber ganz schön was vorgenommen.“ Ihm gefiel die Idee, aber er sorgte sich um das arme Mädchen.
„Gehst du auch zum Mond? Nimmst du mich mit?“ fragte sie ihn frech.
„Na, komm schon“ meinte er, als er sie hochzog. „Wohin müssen wir denn gehen?“
Sie zeigte mit ihrem Arm auf den Mond: „na, da lang!“
Auf seine ruhige Art fragte er sie alles Mögliche. So auch nach ihrem Namen und ihrer Adresse. Sie war glücklich, fragte neugierig wie lange sie noch brauchen würden. „Och, mindestens noch die halbe Nacht“ entgegnete der Fremde. Er hob sie in seine Arme, während sie in ihre Träume tauchte.
Nach einer Weile stand er vor der angegebenen Adresse, atmete noch tief durch und drückte den Klingelknopf. Ein Streit verstummte, er klingelte nochmals. Ein Paar erschien an der Tür, starrte ihn fassungslos an.
„Ich bringe ihnen ihr Kind zurück“, sagte er schüchtern und merkte, wie ihm seine Knie schwach wurden. „Es ist ausgerissen, hätte sich fast verkühlt“, fügte er an.
Doch die Eltern zeigten keinerlei Wiedersehensfreude. Hastig riss die Mutter Sandra an sich. „Sie Sittenstrolch! Das werden sie bereuen!“, fuhr sie ihn an.
Der Vater packte ihn am Kragen, schimpfte auf ihn ein: „das wird rechtliche Konsequenzen haben!“, brüllte er immer wieder, mit einer Kanonade weiterer wüster Beschimpfungen.
„Wir wollten zum Mond!“, meinte Sandra, als sie durch den Lärm erwachte. „Endlich hat jemand Zeit für mich“, warf sie ihren Eltern vor. Doch diese waren noch zu sehr mit ihrer Aufregung beschäftigt.
„Ihr Kind ist ausgebüchst“, versuchte der Fremde zu erklären. „Und ich bringe es unbescholten zurück. Nicht jeder nächtliche Spaziergänger würde das tun.“
Die Eltern hörten ihm noch immer nicht zu, beschimpften ihn weiter.
Der Fremde zog es vor, in die Stille der Nacht zurückzukehren. Verärgert über die Starrköpfigkeit dieser Menschen, wollte er deren Welt hinter sich lassen. Er folgte dem Mond, löste sich von Straßen, Häusern und Städten. Immer weiter näherte er sich dem Mond, in der Hoffnung, in den Frieden des nächtlichen Himmels einzugehen.
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Robert Königshausen