45 Sekunden
Die gläserne Kabine öffnete sich sanft. In der Tür erschien ein breites Lächeln.
„Guten Morgen, bitte einzutreten. Einmal in den Himmel gefällig?“
„Wenn der Himmel Ostrau heißt.“
„So ist es. Einfache Fahrt oder mit Rückfahrt auf die Erde?“
„Hin und zurück bitte.“
„Das sind 2 Euro 50 für Sie und die gnädige Frau Gemahlin und für den werten Herrn Sohn und den werten Herrn Hund je 2 Euro. Macht 9 Euro nach Adam Riese.“
Der Liftführer kassierte und drückte auf einen Knopf. Die Kabine schloss sich und der Aufzug schnurrte senkrecht in die Höhe.
„Von hier hat man aber einen schönen Blick auf die Elbe.“
Der Liftführer nickte. „Sie sind zum Wandern hier?
„Ja, gestern waren wir in Dresden und heute wollen wir zu den Schrammsteinen.“
„Sehr schön. Sie werden begeistert sein.“
„Ui, das geht aber ganz schön hoch rauf hier.“
„Ja, bis auf 50 Meter.“
„Cool!“
„Wau wau.“
„So, da wären wir. Drüben am Kiosk gibt es eine Hundebar, falls er Durst hat. Und für Sie gibt es natürlich auch etwas. Den Milchkaffee und den Kuchen kann ich sehr empfehlen.“
„Danke. Sagen Sie, ich habe gehört, hier soll es ein Luchsgehege geben.“
„Ja, direkt neben dem Kiosk. Wenn sie Glück haben, macht er gerade einen Spaziergang.“
„Und wie lange ist der Aufzug heute in Betrieb?“
„Jeden Tag von 09:00 bis 18:00.“
„Na, dann haben wir ja genug Zeit, schönen Tag noch.“
„Gleichfalls, auf Wiedersehen.“
„Hallo Helmut, das passt ja gut! Kannst mich direkt mit runter nehmen.“
„Hallo, Frieda. Steig ein! … Was macht das Knie?“
„Och, mal so, mal so. Gestern bei dem Regen war es besonders schlimm. Aber heute ist es Gott sei Dank besser. Und du? Ach, ich frage gar nicht. Wie alt bist du jetzt, 74, nicht wahr? Aber ich höre dich nie klagen und wenn ich sehe, wie du immer lächelst, dann glaube ich, du bist der glücklichste Mensch auf der ganzen Erde.“
„Glücklich ist ein großes Wort. Aber wozu klagen? Ich bin zufrieden. Du gehst einkaufen?“
„Ja, ein paar Kleinigkeiten. Soll ich dir was aus Bad Schandau mitbringen?“
„Danke, danke, aber ich hab alles.“
„Du bist immer so bescheiden.“
„Du weißt ja, wer wenig begehrt, der wenig entbehrt.“
„Ja, da hast du wohl Recht.“
„So, wieder auf der Erde.“
„Na, dann bis später.“
„Ja, wir sehn uns.“
Helmut wartete eine Weile vor dem Fahrstuhl und griente in die Sonne. Trotz des schönen Wetters war heute nicht viel Betrieb. Kein Wunder, denn die Hauptsaison hatte noch nicht begonnen. Um sich die Zeit zu vertreiben, kramte er in seinem Portemonnaie und betrachtete eine schon ziemlich verblichene Schwarzweißfotografie seines Vaters. Sein Lächeln wurde etwas wehmütig, wenn er an ihn dachte, an ihn, der vor ihm Liftführer gewesen war. An seine Anekdoten von den Reichen, die er zu ihren Landhausvillen nach Ostrau befördert hatte, von den Baronen und Professoren, den Künstlern und Industriellen. Er hatte sie alle gekannt. Helmut nickte. Das mussten schöne Zeiten gewesen sein. Aus den Villenbesitzern und reichen Kurgästen waren nach dem Krieg russische Besatzungssoldaten geworden, später dann die Genossen und nach der Wende die Touristen. Vieles hatte sich verändert, aber er und sein Aufzug waren gleich geblieben.
Helmut liebte seinen Beruf. Er liebte es, ständig unterwegs zu sein, ohne seine Heimat verlassen zu müssen, liebte es, so viele Menschen jeden Tag für eine kleine Zeitspanne ihres Lebens zu begleiten. Und er liebte die Fahrtzeit von der Erde in den Himmel, vom Himmel zur Erde. 45 Sekunden, um über dies und das zu babbeln, über Gott, die Welt und Fußballergebnisse, über die Wende und die Überschwemmung von 2002. 45 Sekunden, um drei Schlücke Tee aus der Thermoskanne zu nehmen, einen Riegel Schokolade zu essen, um darüber nachzudenken, was der Bruder im Westen machte, was am Abend im Fernsehen lief oder wie es wäre, verheiratet zu sein. 45 Sekunden, um zu beobachten, wie die Kurgäste den Hotelpool auf der anderen Straßenseite der Länge nach durchschwammen.
Ein Tourist kam auf ihn zu, Kappe, Hemd und Fotoapparat. Ob Wessi oder Ossi ließ sich kaum noch unterscheiden, bevor sie den Mund aufmachten. Helmut nickte dem Mann freundlich zu und lächelte ihn an. Der Tourist aber starrte zurück, als hätte er einen Geistesgestörten vor sich. Helmut kassierte, die Kabinentür schloss sich und der Aufzug schwebte in die Höhe.
Plötzlich räusperte sich der Tourist: „Sagen Sie mal, wie lange machen Sie das hier schon?“
„Seit 57 Jahren“, antwortete Helmut stolz.
Das Gesicht des Mannes erstarrte zu einer staunenden Maske. Dann begannen die Mundwinkel zu zucken und es bildeten sich Falten, wie Risse im Glas, die sich über das ganze Gesicht ausbreiteten. Und dann zersprang die Maske, zersplitterte in einem gellenden Gelächter.
„Seit 57 Jahren? Ist das Ihr Ernst? Rauf und runter, runter rauf? 57 Jahre?“
Der Mann spie ihm die Worte mit seinem Lachen ins Gesicht. Er lachte noch, als sie oben im Himmel ankamen, noch als er die Brücke zum Kiosk entlang schlenderte. Dann sah Helmut, wie der Mann den Kopf schüttelte, zu seinem Fotoapparat griff und den Luchs in seinem Gehege fotografierte.
45 Sekunden, um die Szene immer wieder zu durchleben: das Lachen, das gegrölte „Rauf und runter, runter rauf“, das Kopfschütteln, mit dem er ihn, Helmut, aus seinem Gedächtnis wischte wie Spinnweben, der Luchs in seinem Gehege.
45 Sekunden, in denen er sich fortan sein eigenes Leben im Gehege vor Augen führte. Rauf runter, runter rauf, in seinem Aufzugskäfig gefangen.
Helmut gab seinen Dienst auf. Es hieß, er sei krank. Er habe aufgehört zu lächeln.
45 Sekunden, um den Himmel zur Hölle zu machen.
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Günter Wirtz
Camòga C.J.
6. Nov. 2010
Beeindruckende Geschichte. Habe sie nicht nur gelesen, sondern verschlungen. Viel Glück, beim Wettbewerb.
Günter Wirtz
7. Nov. 2010
Lieber C.J. Camòga, vielen Dank für deinen Kommentar. Habe ihn nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern sehr genossen. Viele Grüße Günter
india2009
1. Dez. 2010
Beeindruckend!