Alltäglicher Wahnsinn

Ein Schwall stickiger Luft kam mir entgegen als sich die Tür der Straßenbahn öffnete. Wobei Luft? So konnte man das Gemisch aus Schweiß, Parfüm, Alkoholresten und anderen undefinierbaren Gerüchen kaum nennen, das mir der öffentliche Nahverkehr morgens um Sieben zumutete. Alle Fenster waren geschlossen, schließlich waren es draußen nur drei Grad plus. Lieber ersticken als erfrieren. Warum zogen sich die Leute nicht für Draußen an?

Seufzend drängte ich mich in die überfüllte Kabine und versuchte noch eine der Stangen zu erwischen, an denen ich mich festhalten konnte. Dass ich dabei die feuchte Achselhöhle eines Mannes vor mir hatte, der die Jacke schon seit langem nicht mehr gewaschen hatte, ließ mich schauern. Und ich überlegte schon, wieder auszusteigen. Aber, wie so oft, war ich eingezwängt. Ich versuchte flach zu atmen und an irgendwas schönes zu denken. Einen Ausritt mit meinem Pferd im Wald bei Vogelgezwitscher. ‚Warum war nur das Gezwitscher so laut und hörte nicht mehr auf?‘ fragte ich mich. Dann erst stellte ich fest, dass das der Klingelton des Handys des Schuljungen neben mir war. Er schien grade mal 13, schien aber jede Menge zu erzählen zu haben. Ach ja, es war ja Nikolaus gewesen. Eine Wii ? Hm.. interessant, was man heutzutage so zum Nikolaus bekommt. 100 Euro. Ein Waveboard. Und was gibt es dann zu Weihnachten? Ich runzelte die Stirn. ‚Zu meiner Zeit gab es einen Süßigkeitenteller und vielleicht eine Hörspielkassette‘ überlegte ich. ‚Zu meiner Zeit?‘ Plötzlich fühlte ich mich mit meinen 30 Jahren furchtbar alt.

Grade wollte ich in Nostalgie versinken, da drängelte sich ein Herr nach Hinten durch. Ärgerlich sah ich ihn an, als er mir dabei auf den Fuß trat. „Muss der denn jetzt hier durch?“ murmelte ich leise und verfluchte den Schnee auf den Straßen, der mich dazu Zwang die Straßenbahn zu nehmen. Mit meinem Motorroller wollte ich bei der Witterung nicht fahren.
„Die Fahrausweise bitte!“ tönte es durch die Bahn und ungläubig sahen sich alle um.
„Man kann sich hier kaum bewegen, geschweige denn festhalten. Und nun wollen Sie, dass ich nach meiner Monatskarte suche?“ rief der Mann mit der Achselnässe zurück.
Im Prinzip hatte ich die gleiche Ansicht wie er, aber die Vorstellung dem Schweißgeruch auch nur für eine Minute zu entgehen, war recht verführerisch.
Die angehende Diskussion wurde jedoch jäh von einem Rums unterbrochen. Verwirrt sahen sich alle, einschließlich der Kontrolleure, um und schließlich nach Vorne zum Fahrer.
„Liebe Fahrgäste. Leider hat uns ein Auto die Vorfahrt genommen. Wir werden also einen Moment hier warten müssen. Sollten Sie wieder aussteigen wollen… ich entriegele die Türen. Wir sind noch immer an der Haltestelle.“
Erleichtert ließ ich mich von dem Strom der aussteigenden Fahrgäste mitziehen und lief die restlichen zwei Haltestellen zu Fuß. Ich genoss die kalte, würzige Luft und das Knirschen des Schnees unter meinen Füßen. Und freute mich auf die Heimfahrt, die mich nur wenige Stunden später erwartete. Welcher Wahnsinn würde sich wohl dort ereignen?

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Nicole Wyszynski