Aus den Notizen eines erfrorenen Landstreichers
Kälte. Der erste Eindruck eines neuen Morgens ist immer Kälte. Egal was ich tue, wo ich auch bin, sie kriecht verstohlen unter die dicksten Stoffschichten und nistet sich ein. Kälte ist verlässlich. Sie ist bei mir, wenn ich die Augen öffne und sie schmiegt sich an meine Seite, wenn ich ruhe. Ich kann sie nicht abschütteln, ihre Krallen widerstehen den Sonnenstrahlen eines heißen Spätsommertages und der Wärme eines knisternden Feuers in einer Tonne voll altem Papier.
Soweit meine Erinnerung in die Vergangenheit reicht, war sie mir nahe, folgte, wo immer ich mich auch hin wandte. Ich weiß, dass sie nichts Böses will, wenn sie mir in der Nacht auflauert. Sie tut es einfach, weil da sonst gar nichts wäre.
In den frühen Tagen versuchte ich, ihr auszuweichen, verbarg mich im Schatten rostiger Container oder in den engen Gassen weltentrückter Viertel, wo man nur kleine Ausschnitte des Himmels sieht und jedes Gesicht ein Leben erzählt. Doch die Kälte fand mich an allen Ort, ließ sich bei mir nieder, bewundernswert in ihrer Treue. Resignierend erkannte ich, dass Flucht unmöglich war.
Mit Flaschen aus dunklem Glas in den Händen saß ich fortan in der Welt und ignorierte das Offensichtliche. Wie viel ich auch trinken mochte, die aufgerissenen Löcher in meinen Handschuhen wurden größer, während ich die Tage damit zubrachte, auf meine zitternden Finger zu starren. Widerspenstig klammerten sie sich an das Glas, doch sie glitten immer wieder ab, fanden keinen Halt an der glatten Oberfläche. Die Kälte wurde zu meinem großen Feind, ich hasste sie aus tiefer Überzeugung, schleuderte ihr meine Flüche entgegen, doch sie war einfach nur da, stumm, mitleidslos.
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe irgendwann gelernt, mit ihr zu leben, sie als einen allgegenwärtigen Teil meines Daseins zu akzeptieren. Sie wird immer hier sein, und aus dieser Konstante schöpfe ich jetzt neue Kraft. Sie ist meine Begleiterin geworden auf meiner langen Reise, deren Ziel nicht abzusehen ist. Vielleicht ist sie die einzige, die sich meiner erinnern wird, wenn ich nicht mehr bin.
Heute suche ich in den kalten Nächten keine versteckten Orte mehr auf, sondern ergebe mich ganz in ihre Hände, vertraue auf ihr Urteil. Von meiner Schlafstätte aus, der wunderbarsten seit vielen Nächten, beobachte ich den Mond, er spiegelt sich in der dünnen Eisdecke des kleinen Weihers dort vorne, umgeben von unzähligen Sternen. Wenn ich meine Hand unter der Decke hervorhole und Muster in die frostige Luft zeichne, glaube ich, die Kälte beinahe greifen zu können. Eine Erzählung aus einem anderen Leben, als ich noch Kind war, taucht aus meinem Gedächtnis auf: Weit im Norden, erklärte mir meine Mutter, gebe es ein Land, in welchem der Winterhimmel in klaren, kalten Nächten in bunten Farben leuchte. Wenn man ganz still sei und genau lausche, könne man ein Summen vernehmen, ganz leise nur. Dann, so meine Mutter, singe die Winterkälte, um das Licht zum Bleiben zu bewegen.
Und dies ist mein Leben geworden, der Grund, warum ich immer noch unterwegs bin, nach all der Mühe, und nicht aufgegeben habe, wie viele andere. Die Kälte ist durchdringend und ich fühle sie mit allen Sinnen, höre ihr Lied. Sie spricht zu mir und ich horche ihren Einflüsterungen, bringe zu Papier, was sie mir in den dunklen Nächten zu sagen hat, die nicht mehr einsam sind. Nichts ist wirklich schlimm, wenn etwas Schönes daraus entstehen kann.
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Benjamin H.
Juli
27. Nov 2010
Eine wundervolle Erzählung, die immer wieder schwankt zwischen der Traurigkeit des Heimatlosen und gleichzeitig der Zufriedenheit, die er seiner Situation abgewinnt. Und während man zu Anfang geneigt ist, den trinkenden Obdachlosen möglicherweise mit Verachtung zu bedenken, entpuppt er sich im Text als suchender, immer noch träumender Poet.
Sprachlich erstklassig und voller Feingefühl! Super!