Das erste Glas – Lebensmut
„‘Es ist doch ganz einfach mit dem Saufen aufzuhören. ‘ Jakob hatte sich mit jenem überheblich- überlegenden Gesichtsausdruck, der mich schon bei unserer ersten Begegnung sehr gestört hatte, in seinem Ledersessel zurückgelehnt – die fleischigen Hände auf dem Bauch gefaltet. ‚Du musst nur das erste Glas stehen lassen!‘Ich hatte ihn angestarrt. Wortlos. Sprachlos. Dann war ich einfach gegangen und nie wieder in jenes Büro von “Rettungsanker“ zurückgekehrt, einer Organisation die Suchtkranke unterstützt wieder lebenstüchtig und –froh zu werden. Dennoch waren es eben diese, Jakobs Worte, die mich dazu brachten, mich aufzumachen die Sucht zu besiegen. Es ist mir gelungen, wenn ich auch noch viele erste, zweite und auch sechste und siebte Gläser trinken musste, bevor das Glas vor dem nächsten einfach nur das letzte Glas wurde.
“Sophia, meine Nachbarin, die mir auch eine gute Freundin ist, streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht mit ihren gepflegten schlanken Fingern, die gut einer Pianistin gehören könnten. Ihre Augen funkeln, senden mir Wärme bis ins Herz und blicken, so scheint es mir jedes Mal wenn wir uns sehen, bis tief in meine Seele. Etwas unsicher spiele ich an meinem Ring. Auch habe mich gerade auf den Weg gemacht, etwas hinter mir zulassen, das mir nicht gut tut doch immer wieder betrete ich jenen, mir so vertrauten Pfad, des Leidens, zu ängstlich ihn dauerhaft für noch unbekanntes Glück zu verlassen.„Weißt du, Miriam“, sie steht von der alten Küchenbank auf, holt zwei Gläser aus der Anrichte, eine Flasche aus dem Kühlschrank und stellt beides auf den Tisch. „die Sache mit dem ‚ersten Glas, das man stehen lässt, ‘ ist symbolisch. Symbolisch für alles, was man ändern will. Gilt auch für das Verlassen und Anzeigen von prügelnden Ehemännern.“ Sie setzt sich wieder und greift nach meiner Hand. „Komm, erzähl. Hast DU dich auch auf den Weg gemacht? Wann bekommt Zlatko endlich seine verdiente Strafe, für das, was er dir immer antut? “
„ Ja, ich bin unterwegs. Unterwegs in ein neues Leben ohne ihn.“ Ich drücke ihre Hand. „ Das Fass ist übergelaufen. Ich will nicht mehr leiden. Ich habe einen Schlussstrich gezogen unter alles endgültig.“ Ich schweige und lasse die letzten Ereignisse vor meinem inneren Auge Revue passieren.
„‘Stell dich nicht so an, Du Schlampe!‘ wie schon so oft hatte Zlatko mich geschlagen, mir ins Gesicht gespuckt, mich aufs Bettgedrückt und vergewaltigt. Wie immer hatte er sich auf meine Hände gekniet um jegliche Gegenwehr zu verhindern. Wie immer hatte ich alles über mich ergehen lassen um dann wenige Wochen später zu ihm zu sagen:
‚Zlatko, ich bin schwanger. ‘
‚Na, dann lass es wegmachen. Guck dich doch mal an, wie ein Zombie siehst du aus, wie eine asoziale Pennerin. Du blamierst mich ja jetzt schon in der Öffentlichkeit. Wie soll das denn werden, wenn du dazu auch noch fett wirst? ‘
‚ Ja, aber…‘
Er ließ sich durch nichts erweichen, weigerte sich, ohne allerdings, sexuell von mir abzulassen, auch nur ein einziges vernünftiges Wort mit mir zu reden, bis ich endlich in eine Abtreibung einwilligte. Und so stand ich vor zwei Tagen vor jener Klinik. Alles schien mir plötzlich so viel farbiger, strahlender. Die Blumen dufteten mir intensiver als je zuvor, die Stimmen der Menschen, ins besondere die, der Kinder, die mir auf dem Weg begegneten waren mir die schönste Musik. Und dennoch fühlte ich mich ausgeschlossen, war wie gefangen unter einer Glasglocke, die mir alles zeigte, aber mich an nichts teilhaben ließ.
‚Frau S., ich gebe Ihnen jetzt die Pille die einen Abort einleitet und ich rufe sie dann auf, wenn alles für den eigentlichen Eingriff bereit ist.‘
Die Stimme der Schwester klang sie ein Messer, das durch Metall schneidet. Sie klang noch härter, als sie wenige Minuten später wieder kam um mir mitzuteilen, dass sich alles aufgrund eines Notfalles verzögern würde. So setzte ich mich also ins Wartezimmer, blätterte in Hochglanzmagazinen, bis ich einen Druck im Unterleib spürte. Was auf der Toilette passierter veränderte alles, öffnete mir die Augen über Zlatko, mich, unser Leben, ließ mich in einen bodenlosen Abgrund stürzen, aus dem ich, mich unbedingt retten wollte. Denn, was ich für eine Regung des Darmes gehalten hatte, war die Wirkung der unsäglichen Pille: In der Kloschüssel lag es, mein knapp Daumengroßes, noch beinahe formloses Kind.
‚Sie brauchen den Eingriff nicht mehr durchführen, ‘ sagte ich der Schwester, ‘ mein Kind liegt in der Toilette. ‘
Natürlich wurde der Eingriff, dennoch gemacht. Natürlich durfte ich das Kind, da es noch zu jung war um als Mensch zu gelten, nicht beerdigen. Es wurde entsorgt. Natürlich, war Zlatko alles egal, Hauptsache ich stand wieder zur Verfügung um seine Bedürfnisse zu befriedigen,
Doch ich wollte das nicht mehr. Ich wollte, dass mein Kind nicht umsonst gestorben war. Denn barg sein Tod nicht einen Weg, damit ich leben konnte?
‚Miriam?‘ Sophias sanfte Stimme, holen mich ins Hier und Jetzt zurück. Sie schenkt mir eine rote Flüssigkeit, die in dem Kristallglas geheimnisvoll glitzert ein. ‚Bist du endlich bereit ihn anzuzeigen? ‘
Nach einem Moment des Zögerns, schüttele ich den Kopf, greife in die Tasche meiner Strickjacke und gebe ihr das in Küchenpapier gewickelte Etwas, das dort schon die ganze Zweit heraus lugte. ‚Ich glaube eher, dass ich diejenige bin, die sich vor der Polizei verantworten muss. ‘
Sophia schaute auf das noch blutige Messer, dass sie aus dem ebenfalls blutfleckigen Papier ausgepackt hatte.
‘Oh, oh ich… das ist nicht die Lösung, für das stehen lassen deines ersten Glases wie ich sie mir vorgestellt hatte. Doch wenn ich mir dich zu anschaue: dir rotgeschrubbten Hände, die Flecken auf Jacke, Bluse, Hose und sogar den Schuhen…“ sie schluckt, ohne zu versuchen die Tränen die ihr die faltigen Wangen hinunterlaufen zu verbergen. ‚ Ist er tot? ‘
‚ Ja. Ich glaube. Ich hoffe. Ich weiß es nicht. Es ist mir völlig gleich. Ich habe ihn erwischt. Heute, zwei Tage nach dem Tod seines Babies, mit einer anderen. Ich bin durchgedreht und in die Küche gerannt. Er hat sie weggeschickt und dann… Dann kam er zu mir… wollte. wollte mich nehmen auf dem Küchentisch. und da.. das Messer… Ich…‘ Ich beginne hemmungslos zu schluchzen. Sophia stellt sich hinter mich, drückt mich an ihren üppigen Busen, und mir das Glas in die Hand.
‚Trink, Liebchen! Es ist ein Saft aus Beeren und anderen Früchten, ein Geheimrezept meiner Großmutter. Sie nannte ihn immer „ flüssigen Lebensmut“. Wir, Miriam, du und ich, wir schaffen alles was nun vor dir- vor uns- liegt. ‘ Sie griff zum Telefon, wählte 112 und während sie ruhig mit dem Beamten am anderen Ende der Leitung sprach, trank ich zum aller ersten Mal in meinem Leben ein Glas „Lebensmut“.
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Leonie Lucas
huberta
6. Jan 2011
Sehr starke und traurige Kurzgeschichte. War interessant/spannend zu lesen. Sehr gut geschrieben!