Das Großraumtaxi
Wenn die eigene Mobilität mit der Abgabe des Führerscheins ganz drastisch eingeschränkt wird und das geliebte kleine Auto, das einst so viel Freiheit bedeutet hat, in einer Kleinanzeige auf der Seite für Autoverkäufe erscheint, eingebettet in „Bauen und Wohnen“ und das Reisejournal, dann merkt man erst, wie PKW-ausgerichtet unsere Gesellschaft ist. Linde und Walli, zwei rüstige und unternehmungslustige Damen des Seniorenstifts „Abendrot“, waren auch einst Besitzer eines Führerscheins Klasse drei und hatten rege davon Gebrauch gemacht. Doch als sie unsicherer wurden und die Fahrtüchtigkeit nicht mehr so war, wie sie es sich vorstellten, da hatten beide beschlossen, nicht mehr am Steuer eines Autos am Straßenverkehr teilzunehmen. Linde meinte: “es reicht, ehe ich noch einen Unfall verursache und wohl möglich noch jemanden durch meinen Egoismus ins Unglück stürze, fahre ich ab jetzt nur Bus und Taxis. Außerdem hat man ja auch noch den einen oder andern Verwandten oder Bekannten, zu dem man mal ins Auto steigen kann,“ und sie brachte ihre Fahrerlaubnis zur Führerscheinstelle zurück. Walli behielt ihren Schein als kleine Erinnerung an flotte Zeiten, beschloss aber auch nicht mehr zu fahren.
Die Seniorenresidenz, in der Linde und Walli wohnten, lag am Stadtrand, unweit einer Bushaltestelle. Von dort aus bestand eine regelmäßige Verbindung zur Ortsmitte. Alle dreißig Minuten konnten sie hier einen Bus besteigen, zur vollen Stunde ging es in Richtung Stadt und um halb immer stadtauswärts. Als Besitzer einer Monatskarte steuerten sie nicht nur feste Ziele an, sondern ließen sich manchmal bis zur Endstation und zurück chauffieren. Diese Art von Ausflug machten sie immer dann, wenn die Landschaften etwas besonderes zu bieten hatten. Die kräftigen Schneefälle der letzten Tage machten regelmäßige Spaziergänge schwierig. Trotz wetterfestem Schuhwerk, mit rutschfesten Sohlen, wollten sie das Schicksal nicht herausfordern und verzichteten aufs Wandern durch die verschneite Landschaft. Der Weg bis zur Bushaltestelle war schneefrei und der Hausmeister hatte eine ordentliche Portion Salz gestreut. Sie bestiegen den Bus und machten es sich auf der erhöhten Rückbank gemütlich, und das Gefährt der städtischen Verkehrsbetriebe kutschierte sie durch eine malerisch verschneite Winterlandschaft. Die Sonnenstrahlen verwandelten die Gegend in eine glitzernde und schillernde Märchenwelt. Der Bus hielt ganz brav an jeder Haltestelle, aber niemand stieg zu oder aus. Die Fahrt war ein Traum. Sie konnten sich an der winterlichen Pracht nicht satt sehen.
Der Busfahrer hatte einmal einen Jugendlichen aufgefordert, sein Fast-Food wieder einzustecken, da das Verzehren von Speisen in öffentlichen Verkehrsmitteln verboten war. Darum duckte Walli sich geschickt hinter die Rückenlehne des vorderen Sitzes und holten ihre Thermokanne mit dem heißen Tee heraus. Linde öffnete den Deckel ihrer Tupperdose und sie knabberten genüsslich die ersten Zimtsterne und Dominosteine. „Das ist doch schon ganz was anderes,“ flüdterte Walli, „als dauernd nur im Salon zu sitzen und in den verschneiten Garten zu schauen. Hier sieht man noch was von der Welt, wenn es auch nur die Wälder und Felder entlang unserer Buslinie sind. Hauptsache, wir kommen mal raus.“ Auf halber Strecke zwischen Seniorenheim und Endstation erblickten sie eine große weihnachtlich geschmückte Werbetafel, die mitten auf einem Feld hoch oben auf einem Treckeranhänger aufgestellt war. „Besuchen Sie unseren Weihnachtsmarkt! Kunsthandwerk, Weihnachtsgebäck und viele Überraschungen warten auf Sie“, verkündeten kunstvoll gemalte Buchstaben. „Das wäre doch auch mal ein Ausflugsziel für uns,“ schlug Linde vor. „Und wie sollen wir bei dem Schnee dahin kommen? Wenn wir hier an der Haltestelle Holtberge aussteigen, müssen wir mindestens noch ein oder zwei Kilometer die kleine Straße entlang laufen, bis wir auf dem Holtberger Hof ankommen. Bei dem Schnee kannst du das vergessen,“ und sie zeigte auf das Wäldchen, in dem das Gehöft lag. „Dann nehmen wir eben mal wieder ein Taxi,“ schlug Linde vor. „Also das finde ich dann doch zu teuer,“ entgegnete Walli. „Glaubst du wir können mit unserer Monatskarte bis zur Haltestelle Holtberge und fahren und uns dann ein Taxi hierher bestellen und uns zu dem Bauernhof bringen lassen? Die werden doch auch die Anfahrt berechnen und dann ist es eindeutig zu teuer, auch wenn wir den Taxipreis durch zwei teilen.“ „Ja, „ stöhnte Walli, „das sind wieder mal so Momente, wo ich es bereue, meinen kleinen roten Golf verkauft zu haben.“ „Gib doch nicht so an,“ du glaubst doch nicht im Ernst, dass du dich bei diesem Wetter und den Straßenverhältnissen getraut hättest. Aber der Wunsch dieses adventliche Abenteuer zu erleben, ging ihnen nicht aus dem Kopf. Sie erkundigten sich nach dem Taxipreis, doch der war eindeutig zu hoch und sprengte ihr Budget. Aber sie fanden eine kostengünstigere Möglichkeit.
Am nächsten Samstag, bestiegen sie nach neuen Schneefällen den Linienbus stadtauswärts. Doch diesmal setzten sie sich ganz nach vorne, direkt in Reichweite zum Busfahrer, ein netter freundlicher Herr, den die beiden Damen recht gut kannten,. Sie betrachteten ihn schon fast wie einen Privatchauffeur. Er hatte den ersten Gang noch nicht eingelegt, als Walli ihren ganzen Charme einsetze und den Busfahrer überredete, kurz vor der Haltestelle Holtberge links abzubiegen und sie am Bauernhof Holtberge abzusetzten. Ein einleuchtenden Argument nach dem anderen hielt sie parat. Selbst Mitleid erwecken gehörte zu ihren Instrumenten. An der nächsten Haltestelle, an der auch wieder niemand zu stieg setzte sie ihren betörenden Augenaufschlag ein. „Mal sehen, was sich machen lässt,“ beendete der Fahrer jetzt das Gespräch. Außer Walli und Linde saß noch ein älterer Herr hinten im Bus. Er zeigte aber weder Interesse an den beiden Damen noch an der schönen verschneiten Landschaft. Er saß einfach nur da und döste vor sich hin. „Was machen wir, wenn der Kerl da hinten aufwacht und merkt, dass wir vom Weg abgekommen sind. Vielleicht glaubt er, dass es sich um eine Busentführung handelt?“ flüsterte Linde. „Wir bewegen uns auf dünnem Eis, es ist Anstiftung zur Busentführung.“
Als der Busfahrer den Blinker setzte und links abbog, lächelte er Linde und Walli im Spiegel verschmitzt an. „Auf ihre Verantwortung,“ sagte er, „wenn etwas schief geht, behaupte ich sie hätten mich mit Waffengewalt dazu gezwungen.“ Der Bus fuhr direkt auf den Bauernhof zu, auf dem Walli und Linde mit klopfenden Herzen dem Weihnachtsmarkt entgegen fieberten. Beide beobachteten sie den älteren Herrn, der aber nichts von der „Busentführung“ zu bemerken schien. „So, meine Damen, da wären wir,“ sagte der Busfahrer und griff zum Mikrofon. „Herr Holtberge, wach werden, sie müssen jetzt aussteigen, wir sind da, klang die kräftige Stimme durch den Bus. „Sie haben Glück, weil heute so viel Schnee liegt, habe ich sie direkt bis vor die Tür gebracht. Die drei Senioren bewegten sich vorsichtig aus dem Bus hinaus und Linde bedankte sich bei dem Busfahrer: „Jeden Tag eine gute Tat,“ sagte sie „schön, dass sie den alten Mann so sicher zu seinem Hof gebracht haben, und besonders schön ist es, dass diese noble Geste auch uns zugute kam. Der Aufenthalt auf dem kleinen überschaubaren Weihnachtsmarkt war wunderschön und das einzige, was Linde und Walli dort erstanden war ein Weihnachtsengel. Sie ließen ihn schön verpacken und freuten sich schon darauf, ihn bei ihrer nächsten Fahrt in „ihrem Großraumtaxis“ dem Fahrer zu überreichen. Der kleine Weihnachtsmarkt war gut besucht und so schaffen die beiden freundliche Seniorinnen, einen Kontakt zu einem älteren Ehepaar zu knüpfen, das die beiden sogar bis vor das Seniorenheim zurück brachten, obwohl sie nur um einen Transfer bis zur Bushaltestelle gebeten hatten.
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Brigitte Vollenberg