Der Weg zum Ziel der Wünsche (oder eher der Weg zur Erkenntnis)
Müde rieb sich Marie die Augen, griff nach der Kaffeetasse mit zittriger Hand
und probierte es noch einmal. Das kann doch nicht so schwer sein, dachte sie und spürte dabei die Schwere ihrer Hände, wie sie auf die Tischplatte sanken und versuchten etwas zu tun, was ganz selbstverständlich war, aber es klappte nicht.
,,Na los“, machte Marie sich Mut. Immerhin hatten es ihre Hände jetzt geschafft, die Kaffeetasse zu umklammern. Marie atmete tief durch, und ganz langsam hob sie die Tasse mit beiden Händen und trank endlich ihren ersten Schluck.
Währenddessen ging draußen vor dem großen Küchenfenster allmählich die Sonne auf. Wie schön ihr Garten in dem noch fahlen Tageslicht jetzt aussah. Sie hatte das immer gemocht. Es war die schönste Zeit des Tages: Die Stille. Das langsame Erwachen. Kein Laut war zu hören. Es war 5 Uhr in der Früh, und der Rest der Welt schien zu schlafen. Komisch, dachte sie, als die Kinder noch klein waren und später auch zur Schule mussten, hätte sie ein Königreich gegeben, für eine Stunde mehr Schlaf.
Und nun? Der Rhythmus schien sich mit den langen Jahren so eingeprägt zu haben, dass er sie nicht mehr verlassen wollte, ebenso wie die Falten. Nur diese vermehrten sich zusehends, ebenso wie die Angst vor dem Tag, an dem sie diese Erde verlassen musste. Seit dem Tag ihrer Geburt ging sie diesem Zeitpunkt entgegen. Aber in ihrer Jugend war es ihr nicht bewusst. Da denkt man nicht an solche Dinge wie Tod und Vergänglichkeit. Da gehört einem noch die ganze Welt, da will man Spaß haben und feiern, klar machen, dass die Welt sich nur dreht, weil man selbst der Mittelpunkt ist.
Welch bitterer Trugschluss! Man wird erst erwachsen, wenn man weiß, dass jemand anderer das Wichtigste im Leben ist, dass sich die Welt nur dreht, wenn es etwas gibt, das man mehr als sich selbst liebt. Ansonsten bleibt sie nämlich stehen wie eine kostbare Uhr, die ihrer Bestimmung nicht mehr folgen kann – es gibt sie zwar, aber wozu? Bei Marie waren es die Kinder. Alle sieben an der Zahl waren ihre Welt. Und die Erde war nur die Bühne, der Schauplatz, wo alles stattfand. Mit jeder Geburt kam sie dieser Erkenntnis näher. Weiterhin fing der Morgen noch vor Aufgang der Sonne an. Das Versorgen, der Zeitplan einer Hausfrau steckte ihr noch so sehr im Blut, auch wenn alle Kinder schon lange ihr eigenes Leben führten. Nun wo sie die Zeit im Bett verbringen konnte, wo niemand versorgt werden musste, könnte sie all das tun, worauf sie jahrelang wartete.
Wenn die Kinder erst mal aus dem Haus waren, hatte sie immer zu sich selber gesagt, wenn sie in Rente ist, dann würde sie endlich Zeit für all diese Dinge haben. Nie mehr todmüde ins Bett fallen und früh wieder aufstehen müssen, mit halbverschlafenen Augen und bleischweren Gliedern. Heute ist es anders. Schlimmer. Heute geht sie wach ins Bett und steht mit bleischwerem Herzen auf. Es ist, als wäre die Müdigkeit aus ihrem Leben verschwunden – für immer. Nun hat sie das Gefühl, sie braucht keinen Schlaf mehr.
Sicher, Marie hatte immer noch ihren geregelten Zeitplan, aber der funktionierte ganz ohne Wecker. Fast wie mechanisch. Aber zwischen Morgen und Abend wurde ihr das allerwichtigste von der Zeit entrissen: das Muttersein.
Und es gab nichts, was diese Leere auch nur annähernd ersetzen konnte. Heute würde sie alles dafür geben, früh morgens aufzuwachen mit dem Gefühl, gleich die schlaftrunkenen Kinder aufzuwecken, ihnen das Frühstück zu machen, ihren plappernden Mündern zuzusehen, wie sie sich stritten und miteinander spielten.
Und abends nach dem Bad, wenn alle sauber und satt in ihren Bettchen lagen,
das Nachgebet sprechen.
Und kurz vor Mitternacht, wenn sie all die Hausarbeit erledigt, die Anziehsachen der Kinder für den nächsten Schultag gerichtet hätte, hätte sie noch einen Blick in ihr Zimmer geworfen, um sich zu vergewissern, dass alle warm zugedeckt und seelig schliefen, bevor sie selber todmüde in ihr Bett fiel. Ja, das wäre das Größte für Marie. Seltsam, dass man sich im Alter genau das wünscht, dem man in der Jugend gern entflohen wäre.
Die Tasse glitt ihr aus den Händen, fiel mit diesem kurzen und klaren Gedanken zu Boden und zerbrach. Sie erschrak kurz. Ach, wo war sie grad stehen geblieben? Sie war so vergesslich geworden, die letzten Jahre… ,,Heute ist mein dreiundneunzigster Geburtstag“, sagte sie laut und mit verstörtem Blick, ich muss nun meine Kinder wecken.
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Martina Brandt