Die Zeitungsverteilerin
In der Vorweihnachtszeit wurden viel mehr Prospekte mitgeliefert als sonst, die Verteiler mussten sie selbst in die Zeitungen einlegen. Bencke war stolz auf ihren großen Bezirk. Doch neunmal Werbung für dreihundertfünfzig Stück Wochenblatt, da war es zehn Uhr durch, bis sie sich endlich die Druckerschwärze von den Händen schrubben konnte. Alle drei Stapelboxen standen bis zum Rand vollgepackt vor der Tür, festgezurrt auf einer Sackkarre. Schnell zog sie die Jacke an, eine Filzmütze, gepolsterte Fahrradhandschuhe. Die Kälte war ein Schock nach der Gasofenluft, dafür frei vom Geruch frisch bedruckten Papiers. Bencke atmete tief durch, kippte das Gefährt und schob es über den Hof. Diesmal wog es wohl an die hundert Kilo. Bezirk 14 a lag größtenteils in der Fußgängerzone, dort arbeitete es sich angenehm. Doch sie musste erst einmal hinkommen.
In der Allee begannen ihre Augen zu tränen, die Nase lief, doch sie wollte es ohne abzusetzen bis mindestens zur Kreuzung schaffen. Fragmente feuchtfröhlichen Zusammenseins lagen auf den Gehwegplatten, gefährlich für Gummireifen und Hundepfoten. Die Karre kam ohne Schaden daran vorbei. Auch die Ampel spielte mit, ließ ihr grünes Figürchen aufleuchten, als Benckes gedrungene Gestalt herannahte, fast so kompakt wie die Kisten. Hundert Meter weiter begann die gepflasterte Fußgängerzone. Schniefend und zwinkernd manövrierte Bencke ihre Ladung durch das Gewimmel von Passanten über den Bürgersteig. Erst am Rand des Pflasters blieb sie stehen, musterte beim Naseputzen den Betrieb, es war schon eine Menge los. Keine Chance, da noch schnell durchzukommen! Sie spannte sich wieder hinter die Aluminiumholmen, musste gleich stoppen wegen eines im Rückwärtsgang Fotografierenden. Nur wenige Überholmanöver gelangen auf dem holprigen Bodenbelag, immer wieder hing sie hinter Touristentrupps fest. Einheimische und Studenten kreuzten ihre Route, Kinder sprangen vor die Kisten, beinahe hätte sie ein Hündchen überrollt. Auf dem Marktplatz war der Weihnachtsmarkt aufgebaut, die Buden drängten sich rechterhand, gegenüber setzte sich die Straße fort. Bencke fuhr bis zum Schaufenster des Kosmetikladens, vor dem sie jeden Mittwoch ihre Karre abstellen durfte.
Schon wieder Nase putzen. Die Augen hatten sich akklimatisiert, die Brille war voller Tropfen. Es nieselte stark, da lohnte das Wischen kaum. Bencke schob im Schutz des obersten Kistendeckels eine Ladung Wochenblätter in eine Mülltüte und packte sich den Stapel auf den Unterarm. Die Kosmetikberaterin nahm die erste Zeitung strahlend in Empfang, umsäuselt von Wohlgerüchen. Bencke stand schon im angrenzenden Hausflur, ehe das Glockenspiel der Tür verklungen war. Ein Exemplar für Müllermann, ordentlich in den Briefkasten gefaltet, mit etwas Übung ging das einhändig. Schrager ebenso, Zustellverbot bei Schmitt, Fuchsheimer Peter quoll schon seit letzter Woche über. Raus, auf den Markt. Bencke war nur für die Südseite zuständig, sie schob sich durch die Menschenmenge und lieferte auf dem Rückweg. Die Systemköche rotierten, hungrige Leute standen an. Bencke rief einen Gruß, bekam keine Antwort, ließ die Zeitung in einer Nische zurück. Der Uhrmacher nahm seine selbst entgegen, nickte freundlich zum Bimmeln der am Eingang befestigten Glöckchen. Das Windspiel im Jeansshop jagte eine Aushilfe hinter der Tür hervor. Überall wuselte Kundschaft, das Mädchen war neu, es sah Bencke schief an. Endlich griff es zu, dummes Ding, sagte nicht einmal danke. Der Dönermann machte das wieder wett. Er war fast so alt wie Bencke und genauso rund, doch er begrüßte sie mit der Anmut eines Prinzen als schöne Fee. Sie zauberte ihm eine Zeitung herbei, die er gebührend bewunderte. Doch damit war der Spaß auch schon vorbei. Nebenan, wo sich sonst zwei Optikerinnen über Lektüre freuten, war der Verkaufsraum brechend voll. Selbst der elektronische Türgong klang gedämpft, für das Mittwochsblatt hatte niemand Zeit. Vor dem Durchgang zur Kirche bat eine Bettlerin um eins, Bencke bot ihr zwei an, das lehnte sie entrüstet ab. Sie wollte Lesestoff, keine Decke!
Jetzt kam wieder die Kosmetik, Bencke querte den Passantenstrom und begann auf der anderen Straßenseite mit dem Verteilen. Es war nicht immer einfach, in den schmalen, tief in die Gebäude reichenden Läden an Scharen von Kauflustigen vorbei bis zur Kasse vorzudringen. Viele der Verkäuferinnen waren nur für das Weihnachtsgeschäft eingestellt worden, gestresste Studentinnen mit wenig Berufserfahrung, überfordert, ohne Geduld für die feierliche Übergabe von Druckereierzeugnissen. Das war nicht schön, Bencke ermüdete zusehends, die Ohren klangen ihr von all den Willkommensgeläuten. Sie musste dreimal nachfassen, mit Tüte passten nicht so viele Zeitungen auf den Arm. Die letzte Zeitung an dieser Station gehörte der Frau vom Andenkenkiosk, sie sah Bencke kaum an, Touristen belagerten den Stand. Bencke hätte nackt verteilen können, den Kopf unterm Arm, es wäre kaum jemandem aufgefallen.
Sie steuerte den Platz beim alten Viehmarkt an, hatte jetzt Mühe beim Schieben trotz der glatten Verbundsteine. Ihr Brustkorb war auf einmal eng, sie musste pausieren. Bencke war frühverrentet, die Lunge wollte nicht mehr so recht, am zweiten Haltepunkt verschnaufte sie nochmals. Zum Glück war hier weniger Trubel. Sollte sie die Arbeit doch besser aufgeben? Sie erstickte den Gedanken unter dem Gewicht von zehn Zeitungen. Der Metzger hatte gerade erst wiedereröffnet, eine Fleischereifachverkäuferin streckte die Hand gebieterisch nach Benckes Lieferung aus. Auf der Schulter balancierte die Frau eine Stange mit Wurstringen, ließ sie lustig schaukeln, bis Benckes Miene sich aufhellte. Im Hausflur der Metzgerei prangten seit dem Umbau neue Briefkästen. Bencke bestückte sie sorgfältig, Winkel 45 Grad, Titel nach vorne, hübsch sehe das aus, hatte letztes Mal eine Hausbewohnerin gesagt. Bencke las zweimal sämtliche Namen auf den Schildern, doch es kam niemand. Ein Haus weiter reichten wegen der Zustellverbote zwei Exemplare, der Tabakladenmann erhielt seins zum Schluss. Er bemühte sich eigens aus dem Hinterzimmer.
Als Bencke wieder vor der Sackkarre stand, fragte ein Passant nach einem Wochenblatt, erfreut nahm er das letzte aus der obersten Kiste entgegen. Sie löste den Expander und tauschte den leeren Behälter gegen den mittleren. Die Bäckerei hatte sich die Zustellung verbeten, kein Schaden, das waren unfreundliche Leute. Im Eckhaus zur Gasse kam der Juwelier an die Theke, frozzelte über das Wetter. Bencke lachte mit ihm, lebte auf. Flink arbeitete sie sich durch die Geschäfte bis ans Ende der Gasse, schob die Karre, als wöge sie nichts, kam auf der anderen Seite zurück. Sie bedauerte den Umzug des Elektrogeräte-Reparaturlädchens, grüßte den Spielzeugladen-Azubi, der fasziniert eine Lok in den Händen drehte. Von der Eiscaféchefin bekam sie einen Keks, hinter aufgetürmten Ballen nahm sie von der Stoffhändlerin nur die Stimme wahr. Im Miederwarengeschäfts beklagte sich die Inhaberin über die ungezogenen Bälger mancher Eiscafégäste. Seit fünf Jahren lieferte Bencke in Bezirk 14a, kannte seine Straßen besser als die eigene. Doch diese liebenswerte ältere Dame war die einzige, die je nach ihrem Namen gefragt hatte.
Eine weitere Schiebestrecke stand bevor, das Verteilgebiet bestand aus fünf Inseln. An der dritten Station packte Bencke die unterste Kiste obenauf, zog klappernd weiter bis zum Rand des Fußgängerbereichs. Sie ließ das Gefährt vor einem Kindergarten zurück, es war nur hinderlich in dieser Straße mit Autoverkehr. Als habe sie eine geschützte Zone verlassen, begann es wie aus Eimern zu schütten. Linkerhand hin, dann über die Ampel, auf dem Rückweg lief ihr das Wasser in die Ärmelbündchen. Sie traf keinen Menschen. Der überdachte Kindergarteneingang empfing sie wie ein Zuhause, triefend stand sie da und sah in den Regen. In der Nähe schlug eine Kirchturmuhr, seit eineinhalb Stunden war sie nun unterwegs. Eine gute Zeit, zu beliefern war nur noch eine Gasse, die lag schon auf dem Heimweg. Viele Verteiler warfen das Wochenblatt einfach vor die Türen. Würde jemand Bencke vermissen, wenn statt ihrer so einer kam? Sie wollte es gar nicht wissen. Der Mittwoch war ihr wichtigster Tag, manchmal erwartete sie den nächsten schon abends nach dem Verteilen. Ohne die beim Abliefern ergaunerte Aufmerksamkeit würde sie eingehen wie das Fotogeschäft in Nummer fünfzehn. Bencke griff nach den Holmen der Karre, sie musste weiter, sonst würde ihr kalt werden.
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Inga Hetten