Ein ganz normaler Tagesbeginn

„Tschüss, schlaft noch ein bisschen“, sage ich zu meinen Kanarienvögeln und knipse das Licht aus, bevor ich die Wohnung verlasse.

Es ist Donnerstag, ich fahre durch das Foyer und sehe durch die gläserne Haustür, dass mein Fahrdienst schon auf mich wartet. Uwe und Anja stehen auf dem Parkplatz, rauchen und ziehen die Köpfe ein, um sich vor dem kalten Herbstwind und dem leichten Nieselregen zu schützen.

„Guten Morgen“, rufe ich ein wenig zu fröhlich, wie um mich selbst davon zu überzeugen, dass ich wach und fit für den Arbeitsalltag bin. Die beiden erwidern meinen Gruß und ich fahre auf die elektrische Hebebühne, die mich in den geräumigen Ford-Bus schweben lässt. Drinnen sitzt bereits das kleine Mädchen aus Indien. Sie hat eine leichte geistige Behinderung und eine spastische Lähmung. Mit ungelenken Fingern wischt sie die beschlagene Scheibe sauber. Aus ihrem mp3-Player klingt Bollywood-Musik.

Uwe schnallt meine Rollstuhl fest und zurrt am Bauchgurt. „Gut so? Hier habe ich auch noch die Rechnung für den vergangenen Monat“, sagt er und reicht mir einen Umschlag, der mit meinem Namen versehen ist.
Anja verstaut die Hebebühne, schaltet die daran befestigte Warnblinkanlage aus und schließt die Hecktüren mit zu wenig Kraft. Sie muss sie noch einmal öffnen, um sie dann zu fest zuknallen zu lassen.
Beide gehen um das Auto herum und dabei wird Uwes auffällige Gehbehinderung, die von einem Motorradunfall vor vielen Jahren rührt, deutlich. Sie steigen ein, schnallen sich an und Uwe reguliert die Heizung. Dann fahren wir langsam los, rollen vom Parkplatz und fädeln und in den Verkehr ein.

Nur stockend kommen wir voran, denn es ist viel los auf der Straße, zwei Fußgängerübergänge und eine rote Ampel lassen die Fahrt schon auf den ersten zwei Kilometern nur langsam verlaufen. Wir gelangen nun bereits fast übergangslos in den Wald und die Straße verengt sich deutlich. Die entgegen kommenden Autos blenden stark, der Scheibenwischer arbeitet sich träge über die nasse Scheibe und wir verlangsamen unsere Fahrt noch ein bisschen, um über die erste der beiden unebenen Bahnschienen zu holpern.

Noch ca. 100 Meter bis zur nächsten Ampel und ich mache mir einen kleinen privaten Scherz daraus, zu raten, ob Uwe – sollten wir hier stoppen müssen – wieder den letzten Schluck Kaffee aus seinem Thermosbecher trinkt. Na klar, wusste ich es doch.

Wir biegen nach links ab, rollen über den zweiten Bahnübergang und tauchen dann völlig in den tief dunklen Wald ein. Träge schlängelt sich die Straße sehr kurvig durch die Bäume. Es ist die Zeit, in der die Wildschweine unberechenbar die Straße kreuzen und ich hoffe, dass uns ein Unfall erspart bleibt.

Ich schließe die Augen und meine Gedanken sind bereits im Büro. Was fällt heute an? Die Vorstandssitzung muss terminiert werden, ich werde drei neue Handyverträge abschließen, recherchieren, woher wir eine Fahne bekommen, die auch bei starkem Wind nicht reißt und noch viele andere Dinge mehr. Hoffentlich gibt es heute keine schwierigen oder bedrückenden Anrufe wie den gestern, bei dem eine Mutter vor Trauer kaum sprechen konnte, weil ihr sechs Monate altes Baby im Sterben liegt und sie bei uns Hilfe und Unterstützung suchte.

Die blechern aus dem mp3-Player des Mädchens zu hörende Musik mischt sich mit der Wettervorhersage; Uwe macht das Radio lauter. Ein Tief kommt auf uns zu und damit weiterhin kaltes, nasses Wetter, lässt uns die fröhliche Nachrichtenstimme wissen. Als im Anschluss ein Comedy-Spot beginnt, öffne ich meine Handtasche, hole das iPhone heraus und stecke mir die Ohrstöpsel ein. Es gibt nichts, was weniger lustig ist als Radio-Comedy, da vertiefe ich mich während der letzten zehn Minuten der Fahrt lieber in mein aktuelles Hörbuch. Simon Jäger liest „Die Bibel nach Biff“. Seiner Stimme könnte ich ewig lauschen, das ist Unterhaltung, die ich liebe.

„Guck Dir den Kerl an“, ruft Uwe plötzlich und zeigt mit ausgestrecktem Arm heftig gestikulierend auf einen roten VW Golf, der uns in rasantem Tempo überholt hat. „Das ist der selbe Wahnsinnige, der uns gestern schon fast gerammt hätte. Hier, auf dieser Strecke, bei dem Wetter zu überholen, ist selbstmörderisch. Anja, schreib mal das Kennzeichen auf“, fordert er seine Beifahrerin auf. Schweigend öffnet sie das Handschuhfach und notiert das Nummernschild auf einem kleinen Zettel.

Wozu, frage ich mich, sage es aber nicht laut.

Schweigend wird die Fahrt fortgesetzt und nach einigen Kilometern kommen wir in die kleine Ortschaft, in der mein Arbeitsplatz liegt. Wir fahren den steilen Berg herunter, der im Winter, wenn Schnee liegt, kaum zu bezwingen ist und rollen auf den Parkplatz des Supermarktes, der sich im selben Gebäude befindet. Die Außenwerbung zeigt, dass Dallmayr-Kaffee im Angebot ist. Gut zu wissen, nachher werde ich mir ein Paket kaufen.

Uwe und Anja schnallen sich ab, laufen um das Auto herum, öffnen den Bus, schwenken die Hebebühne herum und Uwe löst meine Gurte. Ich stoppe das Hörbuch, gebe ihm den Haustürschlüssel und rolle auf die Plattform, die Anja routiniert nach unten schweben lässt. „Tschüss“, sagt sie und ich erwidere „Dankeschön und bis morgen“, denn sie arbeitet nur in der frühen Schicht.

Die wenigen Meter bis zum Eingang des Gebäudes führen durch einen schmalen Zugang, in dem der Wind besonders kalt bläst. Uwe öffnet mir die sehr schwer gängige Tür, gibt mir mein Schlüsselbund zurück und verabschiedet sich mit den Worten: „Mach’s gut und bis später“, die ich mit „Vielen Dank, Du auch, bis heute Mittag“ erwidere.

Der Aufzug bringt mich in den zweiten Stock. Mit leise summendem Motor fahre ich zu meiner Bürotür, ich schließe auf, knipse das Licht an, fahre den PC hoch und beginne zu arbeiten.

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Clara