Familienurlaub

„Wann sind wir denn endlich da?“ Jan, Ellas fünfzehnjähriger Sohn, schob mürrisch das Gesicht zwischen die Kopfstützen der Vordersitze des Audis. „Ist ja zum Einschlafen hier.“ Er gähnte demonstrativ.
„Dann schlaf doch oder schau dir die Landschaft an“, sagte Ella.
„Scheiß Landschaft.“
„Erst mal ziehst du gefälligst den Kopf zurück!“ Hermann, Ellas Ehemann, presste seine Hand gegen Jans Stirn.
„Ich hab Hunger und muss Pipi“, meldete sich in diesem Augenblick ihre vierjährige Tochter Lara.
„Nimm den Kopf weg! Verflucht!“
Jan zog sich auf den Rücksitz zurück, kniff die Lippen zusammen und verschränkte die Arme.
Ella warf ihm einen flehendlichen Blick zu. „Bitte, Jan.“
„Es ist stink langweilig.“ Die Lippen ihres Sohnes bebten. Mit seinem Blick schien er die Rückenlehne des Fahrersitzes zu durchbohren.

Ella knetete ihre Hände. „Nur noch dieses eine Mal“, sagte sie.
„Ich hab gleich gesagt, dass ich nicht mit will. Scheiß Strand.“
„Dein scheiß Strand kostet `ne Stange Geld, mein lieber Freund.“ Hermanns schweißfeuchtes Gesicht tauchte vor Ellas auf. Über seine Nasenwurzel gruben sich zwei senkrechte Falten in seine Stirn. „Und wer muss dafür schuften? Doch ich, nicht du.“
„Na und.“
Ella schluckte. Für einen Moment schloss sie die Augen, dann holte sie tief Luft. „Essen wir doch erst einmal etwas“, sagte sie, bemüht, ein Lächeln in ihre Stimme zu legen, um, wie sie hoffte, dadurch die aufgebrachten Gemüter zu beruhigen. Sie zerrte die Tasche aus dem Fußraum auf ihren Schoß und wühlte eine Brotdose heraus. „Wer möchte ein Käsebrötchen?“
„Pfui Teufel!“ Jan machte Geräusche, als müsste er sich übergeben.
Mit quietschenden Reifen schlingerte der Audi auf den Standstreifen der Autobahn. Wütendes Hupen ertönte hinter und neben ihnen.
Ella fuhr zu ihrem Ehemann herum. „Du kannst doch nicht….“ Sie schluckte, krampfhaft bemüht, das Zittern in ihrer Stimme und in ihren Gliedern zu unterdrücken.
Ihr Mann drehte sich mit drohend erhobener Faust zur Rückbank um. „Es reicht, mein Freund!“, brüllte er.
„Hermann, muss das denn sein? Könnt ihr euch denn nicht vertragen?“
Das Gesicht ihres Mannes zuckte und lief rot an. „Für wen mache ich denn das alles, den Urlaub und so? Doch nur für euch. Und einmal im Jahr als Familie etwas zusammen zu machen, kann ja nicht zu viel verlangt sein.“
„Scheiß Urlaub! Nur du wolltest ihn.“
„Jan!“ Ella warf ihrem Sohn einen scharfen Blick zu.
„Ist doch wahr. Er wollte doch nur.“
Wieder hob ihr Mann die Faust. „Freundchen, treib es nicht zu weit!“ Er hievte sich vom Sitz und reckte sich drohend über die Rückenlehne.
„Ich muss! Ich muss!“ Laras Stimme klang weinerlich. Ella sah, wie ihre Tochter verzweifelt auf ihrem Platz hin und her rutschte. Ihr Blick flog durch die Windschutzscheibe und blieb an einem Straßenschild hängen. „Nach zwei Kilometern kommt ein Rastplatz.“ Sie puffte ihren Ehemann am Oberarm an. „Los, gib Gas!“
Ihr Mann rührte sich nicht. Steif, mit verbissenem Gesicht starrte er noch immer nach hinten. Ella stieß ihm den Ellenbogen in die Seite. „Willst du, dass sie in die Hose macht?“
Endlich ruckte der Audi an, hopste vorwärts, dann piepte der Blinker. Ella atmete auf, als sich der Wagen in den Verkehr einfädelte und über die Fahrbahn schoss. Minuten darauf erreichten sie die Raststätte. Der Audi rollte in eine Parkbucht. Kaum kam er zum Stehen, ergriff Ella ihre Handtasche, dann sprang sie nach draußen, packte ihre Tochter und riss sie hinter sich her Richtung Toiletten.
Als sie von den Toiletten zurückkehrten und vor die Tür der Raststätte traten, sah Ella schon von weitem, dass sich ihr Mann und ihr Sohn noch immer stritten. Sie hielt abrupt an. Ihre Finger umschlossen die Hand ihrer Tochter fester. Nur wenige Schritte von ihnen entfernt bemerkte sie einen Bus, der, wie sie erkennen konnte, einem Braunschweiger Reiseunternehmen gehörte. Vor dem Einstieg stand ein Mann – der Busfahrer, wie sie vermutete, – und rauchte. Ältere Frauen und Männer drängten an ihm vorbei zur offenen Bustür.
„Ob er?“, dachte sie. Sie warf noch einmal einen Blick zum Audi hinüber, dann holte sie tief Luft, straffte die Schultern und zog ihre Tochter mit sich zum Bus und zum Mann.
„Entschuldigen Sie.“
Der Mann sah sie an.
„Fahren sie nach Braunschweig?“
Der Mann nickte.
„Hätten Sie noch zwei Plätze frei, für mich und meine Tochter?“
Er musterte sie.
Sie wies mit dem Kinn zum Audi, in dem noch immer deutlich erkennbar ein Streit tobte.
„Familienurlaub?“, fragte er.
Dieses Mal nickte sie.
„Gleich vorne, hinter meinem, dem Fahrersitz.“
Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln, dann beugte sie sich zu ihrer Tochter vor. „Wie wär’s wenn wir zurück nach Hause fahren, Schatz? Dann kannst du morgen wieder in den Kindergarten gehen und mit deinen Freunden spielen.“
Das Leuchten in den Augen ihrer Tochter verriet ihr die Antwort, noch bevor ein „Oh ja!“ an ihre Ohren drang. Sie breitete die Arme aus, zog ihre Tochter an sich, küsste sie auf die Stirn, dann hob sie hoch und stieg mit ihr zusammen in den Bus ein.

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Martina Bethe-Hartwig