Gen Osten
Als ich vor der Haustür stand war ich mir schon unschlüssig, in welche Richtung ich überhaupt laufen sollte. Leise Panik stieg in mir auf. Noch konnte ich jederzeit umkehren. Mein Leben als Einsiedlerin in meiner neuen 20 m2 Mietswohnung fristen. Das Essen würde ich mir liefern lassen, so müsste ich nie mehr einen Fuß vor die Tür setzen. Dank der modernen Technik war das ohne weiteres möglich! Ich schüttelte den Kopf. Das konnte doch nicht wahr sein! Mit der Einstellung hätte ich genauso gut daheim bleiben können. Wer aber unabhängig sein will, muss auch mal den Schritt von der Klein- in die Großstadt wagen! Ich würde doch nicht schon klein beigeben, nur weil ich den Weg zu einem Einkaufsgeschäft nicht fand!
Mutig marschierte ich also nach rechts. Nach einer gefühlten Stunde Fußmarsch war ich aber wieder kurz vorm verzweifeln. Lief ich überhaupt in die richtige Richtung? Die Gegend hatte sich fast überhaupt nicht verändert! Würde ich mich halt durchfragen müssen. Komisch nur, dass ausgerechnet jetzt keine Menschenseele weit und breit zu sehen war. Ein paar Ecken weiter fand ich dann endlich jemanden. „Ungefähr 100 Meter nach Osten laufen, dann kommst du an einem kleinen Cafe vorbei. Direkt dahinter um die Ecke, dann bist du nach ca. 500 Metern im Zentrum“. Der Kerl war besser als jedes Navi! Ich meine, er hätte auch einfach sagen können „Da gehste lang!“, wobei mir das fast lieber gewesen wäre, denn… wo war nochmal Osten? Das hatte mich etwas verwirrt. Was man mir auch angesehen haben musste, denn er fragte mich ob er ein Stück mitgehen soll. „Klappt schon!“, antwortete ich ihm und marschierte entschlossen in die Richtung von der ich annahm, dass es Osten war. „Hey!“, das war wieder er, ich drehte mich um und er zeigte lachend in die entgegengesetzte Richtung. Mit so viel Würde, wie ich aufbringen konnte ging ich also in diese Richtung. Aber die Beschreibung war perfekt! Kurz darauf hatte ich glücklich eingekauft und aß zur Feier des Tages ein Eis.
Schön wo ich hier gelandet war. Seit Tagen war ich das erste mal wieder vollkommen zufrieden mit mir und der Welt. Voller grausen kamen mir jedoch nur kurze Zeit später wieder meine gut gefüllten Umzugskartons in den Sinn. Das Platzproblem war noch nicht gelöst, als sich das Hunger-Problem ergab. Ich hatte einfach viel zu viel Zeug, dass ich in viel zu wenig Platz unterbringen musste. Das war das Letzte das ich festgestellt hatte, bevor ich vor Hunger fast umfiel. Seufzend, und nur widerwillig verließ ich meinen sonnigen Platz um zu meinen Umzugskartons heimzukehren. Wo musste ich jetzt wieder lang? Osten? Ach nein, das war ja vorhin. Also wenn ich vorhin Richtung Osten laufen sollte, muss ich jetzt in Richtung Norden. Oder Westen? Vielleicht auch Süden. Oder Nord-West. Süd-West? Da gab es doch mal einen Spruch. Wie ging der nochmal? Irgendwas mit Osten und Süden und laufen… Nein. Das hilft auch nicht. Also. Tief einatmen, nochmal nachdenken. Vorhin Richtung Osten, also dann jetzt in die andere Richtung? Das wäre dann ja… Westen? Aber wo ist Westen? Wächst nicht auf der Nordseite von Bäumen Moos? Hilft mir aber grade auch nicht weiter, ich befand mich mitten in einer Großstadt, da steht kein Wald.
Ich stand inmitten einer Menschenmasse und fühlte mich sehr alleine. Jeder strömte entschlossen in eine Richtung. Schön, die haben alle ein Ziel. Und wo muss ich hin? Ich war den Tränen nahe. Kurz spielte ich mit dem Gedanken mich heulend auf den Boden zu werfen und nicht wieder aufzustehen. Feuerwehr und Polizei würden kommen müssen um das Gebiet großräumig abzusperren. Keiner würde mich von der Stelle bekommen. Ich würde in Handschellen und Zwangsjacke, halt das eine schließt das andere aus, dann halt Handschellen oder Zwangsjacke abgeführt. Sie würden versuchen mich zum Reden zu bringen, aber ich würde nur weinen, bis sie in mühevollen Ermittlungen meine Identität herausfinden müssten. Dann brächten sie mich zu meinen Eltern nach Hause und alle würden sagen: „Seht her, das ist sie. Zog aus um die Welt zu erkunden und scheiterte qualvoll“. Und sie würden mit dem Finger auf mich zeigen und Lachen, grausam lachen. Und ich wäre meinen Lebtag nicht mehr froh und würde vor lauter Scham nur noch in meinem Zimmer hausen, bis ich irgendwann einsam und allein starb.
Aber das war Schwachsinn. Irgendwo in dieser Stadt warteten Umzugskartons auf mich und ich würde sie finden. Jawohl! Entschlossen marschierte ich erstmal wieder zu dem Geschäft, in dem ich eingekauft hatte. Das war zum Glück noch auffindbar. Aber jetzt…? Von wo kam ich denn. Links, Rechts? Oder von dort? Wie war die Wegbeschreibung noch mal? Osten, Cafe, Ecke, 500 Meter, Zentrum? Das müsste ich ja dann nur Rückwärts gehen. Aber wo bin ich rausgekommen?
Und inmitten meiner größten Verzweiflung sah ich ihn, ja man glaubt es kaum, dass es solche Zufälle gibt, dort stand er, dort vor der Eisdiele, mein Retter, mein schillernder Held! Der Kerl hatte mir doch vorhin schon geholfen. Ich stürzte auf ihn zu, konnte mich gerade noch zusammenreisen sonst wäre ich vor ihm auf die Knie gefallen. Halt! So verzweifelt war ich nun doch nicht. „Hey!“, rief ich ihm ein paar Meter vorher zu, „vielleicht erinnerst du dich noch, du hattest mir vorhin geholfen ins Zentrum zu finden. Jetzt finde ich nicht mehr raus“. Er sah mich ein paar Sekunden nachdenklich an, dann klarte sein Gesicht auf und er lächelte: „Na klar! Du wusstest nicht wo Osten ist!“. Na danke! Wenn ihm das als einziges Merkmal von mir in Erinnerung geblieben ist. Als ob es zur Allgemeinbildung gehört immer und in jeder Situation Osten zu finden. Ich war kurz verärgert. Das verflog aber schnell wieder, als er mich immer noch so nett anlächelte. Naja, hat es wahrscheinlich nicht so gemeint. „Wo musst du denn hin?“, fragte er. Ich nannte ihm die Straße. Worauf er erwiderte, dass das ja nicht so weit wäre, was ich vorhin aber ganz anders empfunden hatte, und sagte, er müsse auch in diese Richtung, ob ich mit ihm laufen wollte? Oh je, wie war das? Gehe nicht mit fremden? Vor allem nicht in einsame Straßen? Allein? Ohne Handy, wie ich mit Schrecken feststellte, das lag noch daheim. Allerdings, wirkte er nicht unbedingt wie ein Serienmörder. Aber wer tat das schon? Er sah sehr nett aus. Vielleicht lag diese Einschätzung aber auch an den mangelnden Sozialkontakten, die ich in letzter Zeit zwischen meinen Kartons und Zimmerpflanzen hatte. In meiner Verfassung hätte ich wahrscheinlich auch Schneewittchens Stiefmutter für eine wahnsinnig nette und sympathische Frau befunden. Was jetzt? Umzugskartons oder Verstand? Andererseits habe ich ihm bereits meine Straße genannt. Das heißt wäre er ein Serienmörder und hätte es auf mich abgesehen, wüsste er in jedem Fall wo ich wohne. „Ach so ein Käse!“, ermahnte ich mich selbst, bevor ich mich in diese Serienmörder-Geschichte rein steigerte. Und gerade noch rechtzeitig fiel mir ein, dass die Zeit nicht stehen blieb, wenn ich meinen Gedankengängen folgte, er starrte mich immer noch an und wartete auf Antwort. Also nickte ich vage, wird schon schiefgehen!
Wir steuerten auf eine Gasse zu, in die ich mit Sicherheit nie gegangen wäre. Da hätte ich ja noch Stunden hier zubringen können! Erst liefen wir schweigend nebeneinander, dann fragte er mich, ob ich schon lange hier wohne. Nein, eigentlich war es keine Frage, er stellte es fest. Mehr so: „Du wohnst noch nicht lange hier, oder?“ Wie er darauf wohl gekommen war? Zur Antwort schüttelte ich den Kopf. „Nein, gerade erst hergezogen“. „Und von wo?“. „Von daheim“. Er warf mir einen belustigten Seitenblick zu. Na wenigstens nahm er es mit Humor. Ich sagte ihm, wo ich davor wohnte und er beteuerte, dass er davon noch nie gehört hätte. „500 Einwohner“. Das reichte ihm als Antwort. Und dann waren wir erstaunlicherweise auch schon in meiner Straße angelangt. Das ging aber schnell! Vor der Haustür setzte er mich ab, „Na dann“, er warf einen kurzen Blick auf das Klingenschild, „Axel, vielleicht sehen wir uns ja mal wieder, ich weiß ja jetzt wo du wohnst!“. Ups, das Klingenschild musste ich auch noch auswechseln! Und ja,vielleicht sieht man sich ja mal wieder. Wenn man sich in einer 2-Millionen-Einwohner-Stadt an einem Tag schon zweimal begegnet ist, stehen die Chancen bestimmt nicht schlecht. Und wenn nicht, was soll´s? Meine ersten Wege in meinem neuen Leben hatte bereits erfolgreich gefunden. Der Rest ergibt sich dann auch noch!
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Dagmar Ganz