Minus eins
Liebe ist das erste, was ich spüre, das erste, was ich wahrnehme, nachdem ich erwache. Und das, obwohl ich hier ganz allein bin und niemand da ist, um mir ein Gefühl wie Liebe zu geben oder es zu wecken.
Es ist stockdunkel. Um mich herum stehen dicke Mauern, verborgen in der Finsternis. Ich kann sie nicht sehen, aber ich weiß, dass sie da sind.
Ich liege am Boden, starr, unbeweglich, so als hätte man mich bis zum Kinn einzementiert oder nur mein Bewusstsein wäre hier, losgelöst von meinem Körper, den ich ohnehin nicht spüre. Vielleicht schwebe ich über mir selbst, irgendwo in dieser Dunkelheit. Vielleicht bin ich tot. Tod, das erste Wort, das mir einfällt, nachdem ich erwacht bin.
Ich versuche mich zu erinnern, was vor dieser Finsternis war, aber es fällt mir nicht ein. Und trotz all dem, meiner scheinbaren Leblosigkeit, der Schwärze und der Stille, verspüre ich keine Angst, nicht einmal Unbehagen. Irgendwann werde ich müde und schlafe.
Die Zeit vergeht, ohne, dass ich ein Gefühl dafür hätte wie viele Minuten, Stunden oder gar Tage schon verstrichen sind. Nur eines bemerke ich: die Dunkelheit um mich scheint zu schrumpfen. Das dumpfe Pochen der unsichtbaren Mauern kommt näher. Ich kann es hören, pausenlos. Das Pochen war das erste Geräusch, was hier an meine Ohren drang und bisher das einzige.
Ich habe keinen Hunger, keinen Durst und kein Feuer brennt in meiner Brust. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich überhaupt atme. Alles scheint so leer. Nur jenseits von hier, da spüre ich Leben.
Langsam kehrt Gefühl in meine Glieder zurück. Ich spüre meine Arme und Beine, auch wenn sie in der Finsternis verborgen bleiben. Wenigstens sind sie da und ich bin offenbar nicht tot, höchstens lebendig begraben.
Und ich atme! Die Luft ist dick und schwer. Es ist anstrengend sie einzusaugen und ihr Gewicht drückt von allen Seiten auf meinen Körper. Doch der Drang zu leben macht in mir alles möglich. Und nach dem Wunsch zu leben, kommt schon der Wille hier auszubrechen, wenn ich nur wüsste wohin.
Ich stehe auf und laufe umher. Noch bin ich schwach, aber eine unruhige Neugier ist in mir entbrannt und lodert stetig fort. Ich will wissen, wo ich bin und was jenseits davon existiert. Und warum erinnere ich mich an nichts mehr?
In der Dunkelheit taste ich mich an den Mauern entlang. Etwas Nasses und Schleimiges klebt an ihnen. Erschrocken zucke ich deshalb mit den Händen wieder zurück und kaure mich im Zentrum der Finsternis zusammen.
Ich höre, dass jenseits dieser Schwärze etwas sein muss. Die Geräusche sind dumpf und weit entfernt. Manche wirken vertraut, das spüre ich, andere wiederum fremd und beängstigend.
Bald darauf nehme ich den Lärm der Straße wahr. Auch die Hitze des Sommers kann ich fühlen. Tausend Dunkelheiten später dann raschelt das Laub hinter meinen Mauern zu Boden.
Ich kann die Menschen draußen spüren. Sie sind da, überall um mich herum. Eine Weile frage ich mich, warum sie mich nicht hier herausholen. Ob sie vielleicht gar nicht wissen, dass es mich gibt und ich hier zu Grunde gehen werde, vergessen und allein.
Doch dann wieder kommt einer jener Momente, in denen ich das Gefühl habe, dass die Welt da draußen mir ganz nahe kommt. So, als lausche jemand angespannt mit dem Ohr an der anderen Seite der Wand, wohl wissend, dass ich hier bin. Vielleicht warten sie auf mich. Vielleicht ist es an mir diesen Ort zu verlassen.
Ich muss schon eine Ewigkeit hier sein. Meine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit. Ich kann die Wände erkennen, zwischen denen ich lebe. Und plötzlich sehe ich, dass ein seltsamer Schleim sie verhängt und Blut an ihnen hinunter rinnt.
Ja, und manchmal, da strahlt das Licht des Tages durch die Wände hindurch und es scheint, als seien sie nur ein zarter, roter Vorhang, den ich einfach beiseite schieben könnte um hier raus zu kommen. Aber so ist es natürlich nicht. Die Wände sind fest und undurchdringlich.
Doch plötzlich spüre ich es. So wie auf einmal Leben in die Finsternis dringt, so wie sich alles regt und bebt, da wird mir bewusst, die Zeit ist gekommen. Das dumpfe Pochen hinter den schwarzen Mauern wird schneller, eine der Wände bricht und ich stürze los, renne, renne einfach durch die Dunkelheit. Und ich habe keine Angst mich im Nichts zu verirren ich renne einfach nur, frei von Sorge und voller Hast.
Um mich herum stürzt alles ein. Wenn ich nicht verschlungen werden will von – ja, von dem, was hier kollabiert und offenbar noch weniger ist als das Nichts, was mich umgab – dann muss ich rennen und ich muss raus.
Ich stolpere über die warme, bebende Erde. Riesige Wellen jagen durch die Wände, dröhnen von hinten an mich heran und tragen mich mit ihrer Wucht jedes Mal ein paar Schritte weiter nach vorn, als meine eigenen Beine es getan hätten.
Die Leere füllt sich, ich wate durch kniehohes Blut, das meine Beine umspült und aus der Dunkelheit nachfließt. Weiter! Weiter, drängt es mich und ich höre Schreie aus der Welt jenseits dieser Finsternis, ganz so, als wüsste sie, dass sich mein Kosmos gerade vernichtet und ich mich retten muss.
In der Ferne glaube ich Licht zu sehen. Ein heller Punkt, der langsam größer wird. Ich renne, stolpere, fange mich wieder, hechle weiter. Meine Lunge brennt, aber ausruhen will ich mich nicht. Eine weitere Welle donnert durch die Wände, erfasst mich und trägt mich nach vorn, Rückenwind auf dem Weg hinaus.
Das Licht kommt näher, mit jedem langen Schritt spritzt Blut meinen Rücken hinauf. Unheilvoll strömen mir immer lautere Schreie entgegen. Sie machen mir Angst und lassen mich für einen Moment den ewig gelebten Drang vergessen diesem Ort zu entfliehen. Nur einer weiteren Welle ist es zu verdanken, dass ich nicht stehen bleibe, dass sie mich weiter trägt und ich dann aus Reflex einfach laufe, so wie zuvor.
Nun blendet mich das Licht. Es brennt in meinen Augen, aber ich bin zu schwach die Hand zu heben und sie zu schützen, mein Lauf raubt mir alle Kraft. Es sind nur noch ein paar Schritte, ich bin fast da, bin fast frei, angekommen, da draußen.
Und plötzlich tauchen zwei riesige Hände in dem Licht auf. Sie greifen mich, ich kann mich nicht wehren. Die Muskeln in meinen Beinen zucken noch, während ich aus der Dunkelheit hinaus schwebe, dem Licht entgegen.
Mein Kopf stößt an die Wände meiner Zelle, meines Gefängnisses, das ich nun verlasse, das nie eines war, bis vor wenigen Augenblicken, bis ich erkannte, dass da draußen tatsächlich die Freiheit auf mich wartet.
Dann sticht Licht mir in die Augen, so hell, dass es schmerzt. Selbst meine geschlossenen Lider können das grelle Leuchten dieser neuen Welt nicht mindern. Und als der Schmerz unerträglich wird, als er in meinem Kopf hämmert und mir beinahe den Schädel zerreißt, da schreie ich, zum ersten Mal. Ich schreie, höre meine eigene Stimme, klar und deutlich, nicht gedämpft und schwach, wie bisher all die anderen.
Und dann höre ich noch etwas: eine fremde Stimme, hell und sanft, wie die eines Engels. Sie sagt: „Es ist ein Junge, er ist wohlauf.“
Das letzte Band zu meiner dunklen Herkunft wird noch zerschnitten. Alles was mir bleibt, ist ein Keim meines ersten Gefühls.
Für die einzigen paar Sekunden meines Lebens bin ich wirklich frei. Bis sie mich nehmen und neben meine Mutter legen.
Ich lebe!
Der Weg ist zu Ende, ein neuer beginnt.
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Jan König