Unbefleckter Schnee
Ihre Augen sahen verträumt auf die weiße Schneelandschaft rechts von ihr. Noch war er unberührt, rein, einfach nur wunderschön. Vereinzelt schneiten ein paar Flocken herab, die das gesamte Ambiente noch weihnachtlicher machten. Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Einfach alles war perfekt. Sie war glücklich, wunschlos glücklich. Natürlich wusste sie, dass das kein dauerhafter Zustand war, doch sie war ein Mensch, der den Moment lebte und das Leben liebte.
Sie hörte gerade Musik, im Moment ruhige, die sie persönlich an Weihnachten erinnerte, allerdings eigentlich keine Weihnachtslieder waren. Leise summte sie vor sich hin, außer ihr war im Moment sowieso keiner auf dieser verlassenen Straße. So war auch der Schnee am Gehweg unberührt und nur ihre eigenen Fußspuren waren hinter ihr zu sehen.
Sie freute sich sehr darauf ihn zu sehen. Ihre große Liebe. Darwin. Sie und Darwin waren nun schon zweieinhalb Jahre zusammen und immer noch glücklich. Darwin ist 19, zwei Jahre Älter als Blanca, aber ihre Gefühle füreinander sind noch wie am ersten Tag, den Blanca nie vergessen wird. Heute ärgerte sich Blanca auch nicht, durch die eisige Kälte so lange zu ihrem Freund fahren zu müssen, denn sie freute sich schon so sehr auf das Wochenende, dass alles andere unwichtig erschien.
Außerdem trug sie ihren langen, weißen Mantel, der ihre dünne Taille sehr betonte und sie warm hielt. Dazu eine lange dunkelblaue Jeans und beige, dicke Stiefel. Darwin sagte immer sie sehe aus wie ein Engel mit ihrem langen, gewelltem dunkelblondem Haar, das naturblond war und ihren großen, hellblauen Augen. Die von dünnen, langen Wimpern geziert waren. Ihre Lippen waren blass rosa und herzförmig und auch ihre Haut war eher blass. Sie war nicht besonders groß, sondern zierlich, schlank und wirkte zerbrechlich.
Darwin hingegen hatte breite Schultern, wirkte stark, hatte dunkelbraunes, fast schwarzes Haar und dunkelbraune, ernste Augen. Er war brauner als Blanca. Sie waren ziemlich gegensätzlich, auch vom Charakter. Aber genau das war das, was sie so zusammenhielt. Obwohl Blanca so zerbrechlich wirkte und recht klein war, so war ihr Geist immer lebhaft und optimistisch. Sie war quirlig, lebendig und lachte fast immer. Darwin war eher der ruhigere Typ, ernst und eher schweigsam, wohingegen Blanca oft wie ein Wasserfall quasselte. Doch gerade weil sie so unterschiedlich wie Tag und Nacht waren, passten sie auch so gut zusammen. Blanca konnte sich an keinen einzigen Moment erinnern, wo sie es bereute, ihn zu lieben. Natürlich hatten sie auch schon gestritten, oft, aber das gehört doch auch zu einer Beziehung, und bisher hatten sie sich auch immer wieder vertragen.
Blanca blieb einen Augenblick stehen, betrachtete die weiße Schneelandschaft vor ihr, die kahlen Bäume, die ebenfalls mit Schnee bedeckt waren und die einzelnen Schneeflocken die vom Himmel herabschwebten, und sich bereits verdichtet hatten. Sie zog ihren Mantel oben enger zu, da ihr etwas kalt war, und atmete tief aus. Lächelnd betrachtete sie ihren Atem, der wie eine Wolke vor ihr erschien. Dann fuhr sie sich mit ihren schlanken Fingern durch ihre weiches Haar und ging weiter. Gerne würde sie hier mit Darwin stehen. Arm in Arm. Es wäre so romantisch.
Gleich darauf begann sie in ihrer Manteltasche nach ihrem Handy zu suchen, fand es auch gleich und zog es schwunghaft heraus. Sie drückte eins, denn das war die Kurzwahl für ihren Freund Darwin und wartete, dass er abhob. Es dauerte nicht lange, es läutete zwei, drei Mal, dann hob er auch schon mit sanfter Stimme ab. „Hallo Darwin, ich bin’s, Schatz. Ich bin gerade am Weg zu dir und dachte, wir könnten doch kurz telefonieren. Es ist hier so schön romantisch, weißer, unbefleckter Schnee, ganz rein. Ein paar Schneeflocken und die Sonne geht auch bald unter. Es wäre so schön, wenn du da wärst“, erzählte Blanca lächelnd. „Ja, ich warte schon auf dich. Ich freue mich schon. Ich hole dich dann von der Busstation ab“, seine Stimme klang warm und herzlich. Blanca liebte den Klang seiner tiefen Stimme und antwortete verträumt: „Das ist schön, danke.“ Sie lächelte und spazierte weiter gerade aus. „Ich habe dich vermisst“, meinte Darwin nun sanft und Blanca bekam ihr Lächeln gar nicht mehr von den Lippen: „Ich dich auch.“ „Du bedeutest mir alles, Blanca“, fuhr er fort „Niemand könnte dich je ersetzen. Ich werde dich immer lieben!“ Blancas Wangen bekamen einen leichten Rotschimmer, was Darwin jedoch nicht sah. „Oh Darwin, du bist so lieb zu mir“, säuselte Blanca und gab einen liebevollen Seufzer von sich. „Wo bist du denn gerade?“, fragte Darwin. „Bei der Kreuzung. Aber ich gehe dann übers Feld gleich zur zweiten Busstation, ich glaube nämlich, den Ersten habe ich verpasst“, erklärte Blanca. „Ah, okay, dann dauert es eh nicht mehr lange, bis du bei mir bist“, stellte Darwin erfreut fest. „Ja“, meinte Blanca kichernd, als sie seine erfreute Stimme hörte, die ungewöhnlich hell klang. „Jetzt bin ich schon am Feldweg!“, sagte Blanca laut und fröhlich ins Telefon. „Gut, wenn du in den Bus steigst, legen wir auf und ich gehe schon mal los“, meinte Darwin. „Ist gut“, in dem Moment fuhr an Blanca ein Bus vorbei, „Ach, Darwin, eben ist der Bus an der anderen Haltestelle an mir vorbeigefahren, ich hätte doch nicht extra zu der hier gehen müssen!“ „Das ist aber doof, noch dazu bei der Kälte!“, bemitleidete sie Darwin. Doch schon wieder musste Blanca vor Glück kichern und sagte: „Na ja, es gibt doch bei weitem Schlimmeres als ein bisschen mehr Bewegung!“ Sie lachte, ein herzliches, ehrliches Lachen. Und genau dieses Lachen brachte auch Darwin zum Lachen, er liebte ihr Lachen, er liebte alles an ihr.
Doch da stockte Blancas Lachen plötzlich abrupt. Es wurde still, ganz still. „Blanca?“, fragte Darwin. Keine Antwort. „Blanca?“, noch einmal fragte er, doch wieder keine Antwort. Nun schrie er ins Telefon, angespannt, ängstlich: „BLANCA?!“ Immer noch keine Antwort.
Denn Blanca stand da, ihr ganzer Körper steif, ihr Blick starr auf einen auf der Fahrspur hin und her schlendernden Wagen. Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihr Atem stockte. Der Wagen kam immer näher. Schlenderte über die ganze Fahrbahn, Blanca schnappte mehrere Male tief nach Luft. Sie beobachtete das Auto geschockt. Sie ging ein paar Schritte rückwärts aufs Feld und stolperte! Ein tonloser Schrei, eher ein Keuchen entwich ihr, ein reißender Schmerz strömte durch ihren Knöchel. Das Handy lag zwei Meter entfernt von ihr am Boden. Die Schreie, die ihren Namen verzweifelt riefen, nahm sie gar nicht mehr war, sie war wie in Trance. Trotzdem rappelte sie sich rasch auf und starrte auf die Fahrbahn. Doch der einfache, rote VW steuerte nun auf das Feld zu. Sie traute sich nicht, sich zu rühren, sie war geschockt und hatte Angst. „Darwin…“, murmelte sie geistesabwesend, jedoch nicht ohne den Blick von dem Auto abzuwenden. Ihr Atem wurde hastiger und sie wollte weglaufen, doch ihre Beine bewegten sich nicht. „Darwin!“, schrie sie und ihre Augen wurden von den grellen Scheinwerfern geblendet, ihre himmelblauen Augen füllten sich mit Tränen. Ihr ganzer Körper zitterte. Ihr Atem raste. Sie kniff die Augen fest zusammen. Sie hörte den Motor rauschen. Es waren nur wenige Sekunden, die ihr vorkamen wie eine ganze Ewigkeit. Ihr Körper bebte, ihre Hände waren feucht und eiskalt, den stechenden Schmerz im Knöchel spürte sie bereits nicht mehr, denn schon spürte sie einen Aufprall und riss die Augen geschockt auf. Sie sah einen Fahrer, in der linken Hand eine Bierflasche, von denen auf dem Beifahrersitz noch einige mehr lagen, er sah schmierig aus und schien nicht bei sich zu sein, da spürte sie einen erneuten Aufprall. Diesmal kniff sie ihre Augen wieder fest zusammen. Sie hörte Glas zersplittern.
Sie bemerkte, wie ihr Körper einen Moment lang schwerelos erschien und sie hatte das Gefühl zu fliegen, bevor ein dritter, dumpfer Aufprall folgte. Nun war es still. Totenstill. Blanca konnte sich nicht bewegen. Sie konnte nicht einmal realisieren, was geschehen war. Das Motorengeräusch war verstummt.
Den kalten Schnee um sie herum spürte sie nicht, denn der unbefleckte, weiße Schnee, saugte das dunkelrote, warme Blut sofort auf. So tat es ihr weißer Mantel. Sie spürte ihr warmes Blut überall hin fließen. Ihr war warm. Sie hatte keine Schmerzen, sie konnte sich nicht rühren, spürte auch nichts, aber ihr war warm.
Entfernt hörte sie entsetze Schreie und konnte schwach Darwins Stimme von weit her hören. Ob er wirklich weit weg war, wusste sie nicht, denn die Stimme schien sich zu entfernen, dabei war sie gerade doch erst gekommen. Mit der Stimme vernahm sie nun Sirenen. Sie hasste dieses Geräusch. Sie konnte die Stimmen kaum noch vernehmen, doch sie wusste, Darwins Stimme war bei ihr. Mit letzter Kraft zuckten ihre Lippen noch zu einem Lächeln und sie dachte: „Jetzt bin ich… ein gefallener Engel.“
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Laura
Astrid
22. Dez 2010
Liebe Laura !
Ich kenne ja mehrere Texte von dir – normalerweise viel längere, immer haben sie etwas Überraschendes – dieser Text liest sich sanfter -passend zur Zeit.
Hoffe du schreibst weiter – Freu mich schon auf Neues !