Unterwegs nach Wien

Da saß ich nun und blickte müde aus dem Fenster. Ich hatte ganze zehn Stunden Busfahrt vor mir und wollte die Zeit nutzen, um den gestrigen versäumten Schlaf nachzuholen.
Nach einiger Zeit, es mussten wohl drei Stunden vergangen sein, wachte ich ruckartig auf, weil der Bus stoppte. Es schien so, als würden nochmals Fahrgäste zu steigen. Eilig suchten die neuen Passagiere ihre Sitze. Zu meiner Bestürzung fand auch neben mir eine alte Dame ihren Platz. Dahin meine Arm- und Beinfreiheit. Wir fuhren weiter und es dauerte nicht lang bis sich die Dame zu mir wandte. Höflich stellte sie sich mir als Frau von Dahlen vor und das sie sich freue über meine Gesellschaft. Da es nun ganz den Anschein hatte, dass ich nicht zu weiterem Schlaf finden würde, sondern mich zu einem Gespräch genötigt fühlte, stellte ich mich ihr nun auch vor und begutachtete ihre Erscheinung. Sie hatte langes, graues Haar, welches zu einem Dutt zusammengesteckt war und ihre runzelige, durchscheinende Haut bedeckte ein langes Kleid mit einem Schnittmuster aus dem 19. Jahrhundert. Sie erzählte mir, dass sie wohl seit vielen Jahren nicht mehr in Wien gewesen war und das, obwohl es ihre Geburtsstadt war.

Ich konnte mir nicht helfen, aber während sie mit mir sprach überkam mich mehr und mehr ein sonderbares Gefühl. Es war mir fast so, als würde ich sie von irgendwoher kennen. Ich schaute sie forschend an und versuchte irgendeinen Hinweis bei ihren Sachen zu finden, die mir Aufschluss über meine Vorahnung hätten geben können. Doch fand ich rein gar nichts und beschloss sie nun mit Hilfe des Gesprächs aus der Reserve zu locken. Ich fragte sie, warum sie so lange nicht mehr in ihrer Heimat gewesen war. Nach langem Zögern und einem Augenblick der Unbehaglichkeit vertraute sie sich mir an und sagte:
„Ihnen kann ich es ja ruhig sagen. Sie sind mir fremd und daher lieber als alle, die ich kenne!
Vor vielen Jahren ereignete sich in Wien ein Vorfall, der die Polizei bis heute noch beschäftigt. Drei vermummte Männer bedrohten mit Pistolen die Bankangestellten der Landesbank und nahmen zusammen umgerechnet etwas über 15 Millionen des heutigen Euro mit sich. Bis zum heutigen Tage ist es noch niemanden gelungen die Bankräuber zu fassen oder etwas über den Verbleib des Geldes zu erfahren. Die spezielle Lebens- und Aufenthaltsqualität einer Millionenstadt hat schon gewaltige Vorteile gegenüber einer kleineren Stadt oder gar eines Dorfes, die ländliche Idylle ausgenommen. Dienlich zum Untertauchen.“
„Was hat das aber alles mit Ihnen und Ihrem langem Fortbleiben von Wien zu tun?“, fragte ich entgeistert. Die alte Dame machte eine sachte Handbewegung und zog dabei eine beschwichtigende Miene.
„Einer der drei Gesuchten war damals mein Verlobter Pierre. Er war Franzose und ein vortrefflicher Verführer. Wir waren so verliebt, doch hatte er keinerlei finanzielle Mittel, welche meinen Eltern doch von solch entscheidender Bedeutung waren. Somit begründet sich auch seine Teilnahme am besagten Bankraub.“ Die alte Dame wandte sich von mir ab und räusperte sich kurz. Ich schaute sie mit großen und gespannten Augen an. Solch eine Geschichte hatte ich in der Tat noch nie gehört.
„Nachdem die Beute gerecht aufgeteilt wurde, ging jeder der drei Männer seiner eigenen Wege. Pierre beschloss, mit mir durchzubrennen und das Geld glorreich zu verprassen. Ich entschied dagegen, da ich glaubte, dass uns auf diese Weise die Polizei auf die Schliche hätte kommen können. Im gegenseitigen Einverständnis kauften wir für den Großteil des Beutegeldes eine Immobilie mit der Prämisse, dass unsere Identität geheim bliebe und sich um alle Angelegenheiten ein Verwalter kümmern sollte, welcher letzten Monat verstarb. Das übrige Geld legten wir auf ein ertragreiches Konto und lebten erst einmal von den Zinsen. Leider starb mein geliebter Pierre fünf Jahre nach besagter Tat, so dass ich fortan allein meine Tage mit den Zinsen verleben sollte. Die Eigentümerurkunde der Immobilie allerdings versteckte er in Wien. Er brachte sie zu einem geheimen Ort, wo er sie nach zwanzig Jahren abholen und sich endlich öffentlich zu erkennen geben wollte als der Herr des Hauses. Nur dieser kleine Schlüssel hier kann das Schloss zum Versteck öffnen!“ Wieder musste sich die Dame räuspern und hielt vornehm ihre Hand vor ihren Mund, während sie den Schlüssel in ihre Tasche steckte. „Um welche Immobilie handelt es sich überhaupt?“, kam mir in den Sinn.
„Um das Chateau de Claire. Ein wirklich wundervolles Gebäude mit einem kleinen, verträumten Garten und einer alten Mauer herum. Nun ist es endlich soweit und ich darf die Urkunde an mich nehmen. Sie ist auf den Aliasnamen Clobert ausgestellt und kann im Zusammenhang mit einer Vollmacht beim heutigen Grundbuchamt erneuert und auf meinen Namen ausgestellt werden.“ Die alte Dame holte aus ihrer Tasche ein abgegriffenes Schriftstück heraus, welches sich als Vollmacht darstellte.
„Und hat er Ihnen noch verraten wo sich der geheime Ort befindet, indem sie die Eigentümerurkunde finden können?“, fragte ich neugierig. Sie nickte leicht und lächelte in sich hinein.
„Es war so einfach und sonnenklar. Ich hätte es auch so wissen müssen. Solch einen Ort zu wählen war typisch für Pierre. Er war schon immer ein Liebhaber der Ironie.“
Plötzlich stockte die Dame in ihrem Gespräch. Die Worte blieben ihr im Halse stecken und sie rang nach Luft. Unbeholfen und erschrocken versuchte ich ihr zu helfen. Ich klopfte ihr auf den Rücken, so wie man es macht, wenn jemand einen Bissen verschluckt hatte. Dann schrie ich laut um Hilfe und der Bus stoppte hastig auf dem Seitenstreifen. Wir legten sie gerade auf den Boden und ein anderer Passagier machte Herzmassage. Leider kam jegliche Hilfe zu spät. Als der Krankenwagen eintraf war die alte Dame bereits verstorben. Aus Mitgefühl und Respekt bot ich mich an, sie noch zu begleiten. Als wir schon fast dort angekommen waren, kamen mir wieder ihre Worte in den Sinn. Kurzerhand nahm ich unbemerkt die Vollmacht und den Schlüssel aus ihrer Tasche und steckte beide in die meine.

Nunmehr sind bereits fünf Jahre seit diesem Ereignis vergangen und ich wurde noch immer nicht als Betrügerin entlarvt. Das Chateau hatte ich noch im selben Jahr verkauft, wie ich die neuerstellte Eigentümerurkunde bekam und das Geld auf ein ertragsreiches Konto gelegt. Vorsichtshalber habe ich mir noch einen neuen Pass zugelegt und etwas Bargeld an einem geheimen Ort deponiert. Ich hätte nie gedacht, dass sich mein Schicksal so schnell wenden könnte!

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Franziska Nelka