Zwischen Tür und Angel

Bei Schusters im vierten Stock klingelte es Sturm.
„Jetzt reicht es aber!“ brauste Schuster auf und drückte seine Frau auf den Stuhl zurück.
Lass mich mal gehen! Wenn das wieder so ein lästiger Vertreter ist, dann soll er mich kennen lernen!“
Vor der Tür stand ein Mann mit Aktentasche. Man sah ihm an, dass er für irgendwen mit irgendwas handelte.
„Wir kaufen nichts!“ schimpfte Schuster laut, und bevor der Mann überhaupt sagen konnte, was er wollte, flog die Tür wieder zu. Als Schuster sein gemütliches Kaffee trinken beendet hatte und im warmen Wintemantel das Haus verlassen wollte, stieß er im Treppenhaus auf mehrere Menschen. Sie bemühten sich um einen Fremden; es war der Mann, der eben bei Schusters geklingelt hatte. Eines der Hosenbeine war hochgerutscht, aus den Schuhen triefte Schneewasser. Mit seinem schäbigen, viel zu dünnen Anzug war er an der Flurwand heruntergerutscht. Man hatte ihm den Kragenknopf geöffnet. Das Haar hing ihm wirr in die Stirn. Als der Fremde Schuster erblickte, flackerten seine müden Augen auf, und noch ehe Schuster wegsehen konnte, hatte der Blick des Schwachen den Blick des Starken erfasst und hielt ihn wie mit einer Zange. Dieses Bild ertrug Schuster nicht. Schnell eilte er auf die Straße. Sein Gewissen hämmerte: Wenn er dir nun gar nichts verkaufen wollte? Wenn er nur ein Glas Wasser nötig hatte? Unsinn! beruhigte ihn eine innere Stimme. Wo käme man im Leben hin, wenn man nichts ablehnen durfte, nur weil der Betroffene es sich vielleicht zu Herzen nahm!

Zwei Jahre waren seitdem vergangen. Der Betrieb in dem Schuster arbeitete, hatte seine Pforten geschlossen, Arbeiter und Angestellte entlassen. Zu denen, die keine neue Arbeit fanden, gehörte auch Schuster. Er war ein tüchtiger Buchhalter, aber er war schon fünfzig Jahre alt, und damit gehörte er zu den älteren Angestellten.
Wo immer sich etwas regte, verschickte er seine Bewerbungen und legte beste Zeugnisse bei. Er möbelte sein Äußeres auf, trotzdem fand er nichts. Am Ende des Suchens nahm er das, was er längst hätte nehmen können, wovor ihm aber graute. Er landete bei einer Vertreterfirma. Das bedeutete, von Haus zu Haus gehen. –

Es war an einem kalten Wintertag, als Schuster wieder einmal matt und mutlos von Straße zu Straße, von Haus zu Haus ging. Er war sehr erkältet, und es wäre besser gewesen, im Bett zu bleiben. Aber jeder Fehltag war ein Verlust.
Kaufmann – stand an der Tür. Kaufe man! dachte Schuster und klingelte; er hatte an diesem Tag noch keinen Pfennig verdient. Eine Frau öffnete. Sie war sehr freundlich, sagte jedoch bedauernd: es täte ihr leid…
Als Schuster schon einige Schritte gegangen war, rief ihm die Frau nach, ob sie ihm eine Tasse heißen Kaffee anbieten dürfe, bei diesem kalten Wetter!
So etwas gibt es noch? dachte Schuster. So etwas kommt wirklich und wahrhaftig noch vor? Er stotterte einige Verlegenheitsworte, kehrte um – und saß bald darauf in der warmen Küche am Kaffeetisch.
“ Sie wundern sich vielleicht über meine Einladung“, sagte die Frau, „früher hätte ich nicht so gehandelt, aber mein Mann – er kommt eben aus dem Dienst – ist selbst vor zwei Jahren von Tür zu Tür gegangen, weil er arbeitslos war und nichts fand. Abweisungen gab es ja täglich, aber ein Tag ist uns in besonderer Erinnerung geblieben. Einmal wollte er an einer Tür um ein Glas Wasser bitten. Angebrüllt hat man ihn und ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen – ja, solche Menschen gibt es.“
Die Tür ging auf und ein Mann trat in die Küche, Schuster erkannte den Fremden von damals sofort.
„Der Herr ist Verteter“, sagte die Frau. „Du hast doch nichts dagegen, dass ich ihn zu einer Tasse Kaffee eingeladen habe. Bei diesem schrecklichen Wetter…“
„Überhaupt nicht!“ sagte der Mann freundlich und gab Schuster die Hand. „Ja, das Schneewetter frisst sich durch die Sohlen. Da tut ein heißer Schluck gut….“
Sie kamen auf die Arbeit zu sprechen, und als Schuster erwähnte, dass er eigentlich Buchhalter ist, meinte Herr Kaufmann, das wäre ein Wink des Schicksals. Die Firma, in der er Abteilungsleiter sei, suche gerade einen solchen.
„Schicken Sie mir doch mal Ihre Papiere!“
Schuster war nicht fähig schnell zu handeln. Zwei Tage plagte ihn sein Gewissen. Endlich hatte er sich durchgerungen. Er schrieb einen Brief an Kaufmann – ohne Papiere – und gestand sein Fehlverhalten ein.
„Lieber Herr Schuster“, schrieb dieser zurück, „auch ich habe sie wieder erkannt. Schicken Sie mir getrost Ihre Bewerbung. Wir beide sind um ein Erlebnis reicher geworden, das uns – wie ich hoffe – zu Verbündeten macht.

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Marianne Schaefer