Endstation

Der Zug spuckte sie zusammen mit einer Ansammlung von Fremden auf den Bahnsteig. Sechzig Minuten blieben ihr – zu viel Zeit, um sich Gedanken zu machen und zu wenig, um etwas damit anzufangen. Energisch drängten sich die Menschen an ihr vorbei, setzte sich der Strom vor ihr in Bewegung. Alle schienen ein Ziel zu haben. Sie war vorläufig an ihrem angekommen und weigerte sich, der Masse zu folgen. Sollten die ausgebeulten Koffer und Plastiktüten mit den daran hängenden Menschen doch ihr zielloses Treiben fortsetzen, sie würde einfach stehen bleiben. Ab und zu die Ellbogen ausfahren, damit jemand strauchelt auf seinem geraden Weg.
Die Bahnhofshalle roch nach abgehetzten Körpern und gestrandeten Erwartungen. In ihrem Mund der Geschmack der langen Fahrt. Dort hatten sich Müdigkeit, ein Schinken-Sandwich und ihre wirren Gedanken zu einem unappetitlichen Brei verbunden. Ob wohl jemand ihren schlechten Atem bemerkt hatte? Der Schaffner vielleicht oder der ältere Herr, der ihr gegenüber gesessen und sich selbst von seinem Leben erzählt hatte?

Inzwischen waren fast alle Fahrgäste ausgestiegen. Manchmal, wenn ihr jemand zu nahe kam, konnte sie seinen Atem riechen. Zigarettenrauch, Kaffeedunst und innere Fäulnis schlugen ihr entgegen. Die Vorstellung, die Ausdünstungen fremder Menschen in sich aufnehmen zu müssen und auf diese Art intimer mit ihnen zu sein, als sie es mit sich selbst sein wollte, ließ ihren Verdauungstrakt rumoren. Sie fand es beinahe frech, dass die Evolution ihr keine Möglichkeit gegeben hatte, diese unfreiwillige Kontaktaufnahme zu verhindern. Es sei denn, sie hörte jetzt einfach auf zu atmen.
Dazu schien ihr aber der Gedanke zu aussichtsreich, im Laufe des Abends einen der Gedanken, die sie während der langen Fahrt verloren hatte, wiederzufinden. Diese Chance wollte sie sich nicht entgehen lassen. Da ihr ohnehin noch Zeit blieb, sah sie sich schon mal auf dem Boden zu ihren Füßen um. Vielleicht hatte sich ja zwischen all den Zigarettenstummeln und Essensresten einer ihrer verlorenen Gedanken versteckt.
Warum konnte sie auch nie das verlieren, was sie verlieren wollte? Die Puzzleteile in ihrem Kopf teilten sich nur immer weiter und lösten sich dann auf, statt sich zu einem Ganzen zusammenzufügen.
Als sie gerade versuchte, diesen Gedanken festzuhalten, wurde sie unsanft in die Welt zurückgeholt. Es war der leere Zug, der sich lautstark aufmachte, den Bahnhof zu verlassen. In ihren Ohren klangen seine Motoren wie höhnisches Gelächter. Sieh her, ich bin befreit von meiner Last, schien er zu rufen, und lasse dich mit deiner zurück. Beinahe wäre sie der Versuchung erlegen, ihm hinterherzulaufen, sich in ihm zu verstecken, ihre Gedankenfetzen einzusammeln und zu retten, was zu retten war.
Doch, zu spät – kaum hatte der eine Zug das Gleis verlassen, fuhr auch schon der nächste ein. So ist es immer, schrie einer der Gedanken in ihr ganz laut: Etwas geht, etwas anderes kommt. Kann denn nicht ein Mal etwas bleiben?
Neue Fahrgäste kamen angehetzt. Kleiderständer allesamt, dachte sie. Tragen Stoff am Körper, der sie trägt, damit sie sich selbst nicht tragen müssen. Weil sie sich ohne ihre Kleidung noch viel verletzlicher und schutzloser fühlen würden. Weil sie sich nicht in sich selbst verkriechen können und es so gerne würden.
Von weitem sah sie eine Gruppe auf sich zu stürmen. Einer lief den anderen voraus. Touristen, vermutete sie. Selbst hier in einer fremden Stadt konnten diese Menschen nicht die Chance nutzen, sie selbst zu sein, dachte sie abfällig. Mussten sich in ein Kollektiv begeben, sich von einem Fremden leiten lassen und währenddessen nach Gemeinsamkeiten suchen, nach jemandem, der sie in ihrem Sein bestätigte. Fast war sie neidisch, dass diese kleine Gruppe jemanden gefunden hatte, der ihr den Weg wies. So unendlich viel Sicherheit – wenn auch nur für einen kurzen Augenblick…
Bevor sie diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, schlängelte sich die scheinbar eingeschworene Gemeinschaft schon an ihr vorbei durch die offene Zugtür. Sie hatte sich noch immer nicht gerührt, stand in der Mitte des links und rechts an ihr vorbeifließenden Menschenstroms und fühlte sich für einen Moment wie früher beim Faul-Ei-Spielen. Nur dass sie nun das einzige heile unter lauter faulen Eiern zu sein schien.
Wie im Zeitraffer rauschten die Menschen an ihr vorbei. Offenbar meinten alle, man müsse in Bewegung bleiben, um voranzukommen. Doch in ihr bewegte sich ohnehin so viel, dass sie gar nicht die Energie aufbringen konnte, ihren Körper in Gang zu setzen.
Irgendeines der faulen Eier fragte sie aus heiterem Himmel nach der Zeit. Unwillig sah sie auf ihre Armbanduhr und erwiderte: Mir bleibt noch eine Viertelstunde. Und dir? – Dabei konnte sie sich ein spöttisches Grinsen nicht verkneifen. Das Ei sah sie irritiert an und kehrte mit verächtlichem Blick zurück zu seiner Gruppe.
Unvermittelt fiel ihr die Flasche Wein in ihrer Tasche wieder ein. Vielleicht würde diese ihr helfen, sich sich selbst ein wenig näher zu fühlen oder zumindest weiter weg von allen anderen. Ein. Zwei Schluck – nichts passierte. Drei. Vier. Ein Bruchteil Wärme.

Noch fünf Minuten. Sie glaubt schon, ihn in der Ferne sehen zu können. Winkend, vermeintlich einladend. Oder existiert er nur in ihrer Vorstellung? Vielleicht hat er das immer getan.
Sie leert die Flasche in einem Zug.
Scheinbar fügten sich in diesem Moment einige der Puzzleteile zusammen. Plötzlich sieht sie ganz klar. Wenn sie hier bliebe, würde sie viel mehr verlieren, als ein paar Gedanken. Vielleicht den ganzen Kopf, womöglich sich.
Wie selbstverständlich macht sie auf der Stelle kehrt, steigt in den Zug und versucht, sich zu retten.

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Melanie Kurz