Sahara-Lilie
Sie malte. Schon wieder. Diesmal war es eine Blume.
„Sie sieht sehr zart aus“, sagte ich und betrachtete die durchschimmernden rosa Blütenblätter. Sie sahen aus, als würden sie zerbrechen, in winzige Glasscherben zerspringen, wenn man sie berührte.
„Das sind sie auch“, erklärte sie. „Zart und doch unzerstörbar. Es ist eine Blume, die nur in der Sahara wächst, in Marokko zum Beispiel. Warst du schon einmal in Marokko? Ich glaube, ich würde das Land gerne einmal besuchen.“ Sie legte den Kopf schief und fügte eine filigrane Ader hinzu. Gedankenverloren, wie immer. Wenn sie malte, schien sie nicht hier zu sein, sondern in der Welt, die sie schuf. Selbst, wenn es ein Abbild der Wirklichkeit sein sollte.
„Wie steht es mit… diesem Typ… – David?“, fragte ich, unsicher, ob sie die Frage nach dem Leben im Diesseits überhaupt verstehen würde. Doch zu meiner Überraschung lächelte sie. Auf ihre eigene, verträumte Art. „Gut.“ Ihr Pinsel fuhr die Umrandung der Blätter nach. „Ich weiß noch nicht viel über ihn, aber ich glaube, das könnte etwas werden.“ Kurz hielt sie inne, den Pinsel erhoben, abwartend, was ihr die nächste Eingebung diktieren würde. „Ich mag ihn“, beschloss sie schließlich und tupfte einen Lichtreflex auf die Leinwand.
„Und?“, fragte ich. Sonne sickerte mir durch das verstaubte Fenster auf die Füße. Ich stand im Flur, durch den Türrahmen konnte ich sie, die große Künstlerin, erkennen. Wie sie vor der großen Staffelei stand, etwas verloren, unschlüssig.
„Es geht voran“, kam ihre abwesende Antwort und ich wusste nicht, ob sie das Bild oder ihre Beziehung meinte. Lächelnd schüttelte ich den Kopf. Man musste schon verrückt sein, um es auf die Dauer mit ihr aufzuhalten. Ich fragte mich, warum sie wohl so war, wie sie war. Dann zuckte ich die Schultern. Sie würde es mir ohnehin nicht sagen.
Sie war kräftiger geworden. Die Blume, nicht die Künstlerin. Im Gegenteil, unter ihren Augen lagen Schatten. Ich wusste nicht, ob die Falten in ihren Augenwinkeln Linien der Freude oder des Kummers waren.
„Sie wächst in der Wüste“, erklärte sie mir. „Selbst im unfruchtbarsten Boden findet sie Wasser und überlebt – und sieht dabei so wunderschön aus. Findest du nicht? Man nennt sie Sahara-Lilie.“
Ich betrachtete die Blume. Die spitz zulaufenden Blütenblätter, den kahlen, trostlosen Boden, in den sie ihre Wurzeln geschlagen hatte. Talent hatte sie, meine Freundin, das war unbestreitbar. „Warum gehst du nicht mal zu einer Galerie?“, wollte ich wissen. „Du hast es doch noch nie versucht.“
„…Und bei zu viel Wasser“, fuhr sie fort, „geht sie ein, die Wüstenblume. Sie ist nicht so wie die gewöhnlichen Pflanzen, hier bei uns.“
Ich runzelte die Stirn. Wollte sie mir etwas in ihrer Künstlersprache mitteilen, das ich als Normalsterblicher nicht verstand?
„Wie geht es David?“, startete ich einen neuen Gesprächsversuch.
„Gut“, murmelte sie und begann dunkelgrüne Blätter zu malen. „Gut, gut.“
Ich seufzte. Vermutlich hörte sie nicht einmal das Knarren der Dielenbretter, als ich wieder ging.
Die Blätter waren fast fertig, als ich das nächste Mal kam. Die Malerin auch. Grüne Farbe in den Haaren – und irgendetwas an der schiefen Form des Kittels erweckte den Eindruck, als hätte man ihn falsch zugeknöpft. Die Blume auf der Leinwand blühte umso farbenfroher. Sie war jetzt dunkler, auch der Steinboden war schattiger, voll Vorahnungen der Nacht.
„Die Wüste ist nicht großzügig“, sagte sie und schwang ihren Pinsel, die Augenbrauen entschlossen zusammengezogen. „Die Wüste gibt nichts umsonst. Genauso wie diese Blume: Niemand darf sie anrühren.“
Die Blätter waren lang gezogen, dünn, hart. Wie Spieße. Jetzt hätte ich sie nicht mehr gerne berührt.
„Und wenn sie doch einmal jemand frisst“, erklärte die Künstlerin mit festem Ton, „dann würde er schon bald merken, wie giftig sie ist. Tödlich.“
Ihr kleines, zartes Universum hatte sich zu etwas Gefährlichem gewandelt. Das ferne Land war nicht mehr voller Wunder, sondern nur noch voller Grauen.
Und ich fragte mich, warum sie das Er so betonte.
„Wie geht es …“, setzte ich vorsichtig an. Ich brach ab, als sie plötzlich mit ungeahnter Kraft die Farbe von ihrem Spachtel gerade zu auf die Leinwand schmiss. Die Steine kamen hinzu.
Solange sie noch keine echten nach mir warf, verließ ich den Raum.
Staub tanzte im letzten Sonnenstrahl, der durch das Fenster fiel. Der benachbarte Raum war schattig, die Leinwand lag bereits im Dunkeln.
Diesmal malte sie nicht.
Ohne das Geräusch des Pinsels, ohne das Kratzen des Spachtels oder das Knarzen der Dielen, wenn sie ihr Gewicht verlagerte – ohne ihr gedankenvolles Gemurmel – herrschte eine trostlose, verlorene Stille. Ich hatte nie bemerkt, wie sehr sie den Raum trotz ihrer eigentlichen Nicht-Anwesenheit belebt, gefüllt hatte. Es kam mir verboten vor, in diesen schweigenden Saal zu treten.
Ich sah mich um, lauschte. Kein Laut, kein Zeichen von ihr. Zögerlich ging ich um die Leinwand herum, bis ich das vollendete Gemälde erkennen konnte.
Orange. Rot. Schwarz. Es sah aus, als hätte jemand der Leinwand die Seele aus dem Leib gerissen, als hätte jemand auf sie eingestochen und sie dann elendig und allein verbluten lassen.
Da war keine Blume mehr. Nicht ein einziges Blatt, nicht ein einziger Strich war mehr von ihr zu erkennen. Sie war begraben, von dieser Flut, von dieser Qual. Unter Farbe begraben.
Keine Reise in eine Parallelwelt, nur noch einsame, gefolterte Farbmassen.
Beinahe panisch stürzte ich los, nicht wissend, wo ich beginnen sollte, nach ihr zu suchen. Nach ihr und ihrem eigenen, zerstörten Universum. Ich wollte gar nicht wissen, was er ihr – was er der Wüstenblume angetan hatte.
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Anne Habedank