Überall und Nirgendwo
Nichts hielt ihn. Immer war er auf Reisen, immer unterwegs, ohne Ruhe, ohne Rast. Fast wie eine Krankheit, wie ein Wahnsinniger. Ständig in Bewegung. Ohne Ziel. Ohne feste Richtung. Durch die ganze Welt. Schon seit Jahren lebte er so. Seit er jung war, wanderte er. Nach Norden, nach Westen, nach Süden, nach Osten. Egal wohin. Hauptsache voran gehen. Hauptsache in Bewegung bleiben, sein unruhiges Herz neue Nahrung geben. Seine Neugier nach dem Unbekannten stillen. Tausend Orte hatte er schon gesehen. Jedes Land hatte seinen Reiz, seine Eigenarten, seinen Charakter. Doch es waren nur Haltestellen auf seinem Weg. Nichts Festes. Nichts Sicheres. Nichts, was ihn innerlich befriedigte.
Damals mit zwanzig war er losgelaufen. Natürlich schluckte sein zielloses Umherirren Geld, doch er besaß genug, im Überfluss. Vielleicht legte er deswegen keinen Wert darauf. Geld war nur ein Mittel, um sich Glück zu verschaffen, kein Gegenstand, der durch seine bloße Existenz glücklich machte. Und ihm half es die Welt zu entdecken, die Welt und ihre Menschen. Er musste alles sehen, von allen Speisen probieren. Keine Bindung hielt ihn fest. Freunde hatte er gehabt, doch keine der Freundschaften spannte einen Strick, kettete ihn an seine Heimat.
Nichts erfüllte ihn so sehr, dass er dafür das Reisen, seine große Leidenschaft, aufgeben würde. Gut, er war einsam und allein und manchmal, in den dunklen Stunden der Nacht, wünschte er sich, wie jeder normale, einen Menschen an seine Seite. Doch am nächsten Morgen stand er auf, mit neuer Kraft, mit neuem Tatendrang und dann wusste er, dass es niemanden gab, der diese Wanderung mit ihm unternehmen würde. Denn er hatte einfach kein Ziel. Seine Reise schien endlos, wie der Sand am Meer, die Sterne am Himmel, wie die Fantasie eines Menschen.
Bald hatte er Europa für sich abgehakt. 35 ist er. Gut aussehend. Fit und gesund. Nur sein Herz nicht. Das sucht und sucht. Sucht, aber findet nicht. Weil es nicht weiß, was es sucht. Einen Ort. Eine Niederlassung. Eine Bindung, die ihm das Gefühl von angekommen sein gibt.
Manchmal betreibt er etwas Straßenmusik. Seine Gitarre ist eine Last, aber er trägt sie gerne mit sich rum. Er liebt es, die Finger über die Seiten streifen zu lassen, Töne zu erzeugen, die erst durch ihr Zusammenspiel, in ihrer Gesamtheit mit anderen Lauten, eine Harmonie ergeben. Seine Lieder berühren ihn nicht. Sie scheinen kälter als jedes Haus. Doch trotzdem lässt er nicht ab. Es ist ein fester Bestandteil seines Lebens.
Es war eine unbedeutende, kleine Stadt, fast schon nur ein Dorf. Langweilig, solche von denen, die es tausendfach auf dieser Welt gab. Die Sonne brannte an diesem Tag unbarmherzig herab und die Menschen bewegten sich mit hängenden Schultern durch die Straßen.
Der Mann lehnte an einer Hauswand, spielte seine Lieder, direkt neben einem unbedeutenden Mehrfamilienhaus, einem alten grauen Gebäude, das regelrecht nach neuer Farbe schrie. Auf der anderen Straßenseite befand sich ein kleiner, wahrscheinlich neuer, Bäcker, der Glanz dieser tristen Straße. Sicher, auf einer Einkaufsstraße verdiente er mehr. Alle die diese Straße passierten, waren unterwegs, kamen von der Arbeit oder gingen dahin. Sie kümmerten sich nicht um ihn und er nicht um sie. Das war fair. Seiner Meinung nach.
Und dann war da dieses Mädchen. Er hätte es vielleicht gar nicht gemerkt.
Sie war praktisch aus dem Nichts aufgetaucht, zwei Brötchen im Beutel. Ganz lange hörte sie ihm zu. Sie schien die Musik zu genießen. Obwohl sie mehrere Leute anstarrten, hatte sie die Augen geschlossen, sang oder wippte mit. Sie war klein, nicht älter als fünf, mit struppigen schwarzen Haar und dunkler Haut. Ihre Bewegungen wirkten noch ein wenig unkoordiniert, ihre Gesichtzüge spiegelten ein Meer von Emotionen wieder. Als hübsch oder niedlich hätte er sie nicht bezeichnet. Doch etwas an ihr faszinierte ihn. Als sie ging, warf sie ihm eines der beiden Brötchen in den Gitarrenkasten. Ihre Spende. Er musste darüber lachen, und doch aß er es. Ja es käme ihm wie eine Sünde vor, das nicht zu tun.
Am nächsten Tag spielte er wieder dort. Nur wegen ihr, wegen der kleinen Zuhörerin. Ihn drängte nichts. Auch wenn er es geplant hatte, er musste die Stadt noch nicht verlassen. Und tatsächlich erschien sie wieder, als die Sonne langsam unterging. Sie winkte ihm zu, als wäre er ein Vertrauter. Sie wohnte direkt in dem Hochhaus, an dem er saß. Wieder führte ihr Weg sie zum Bäcker. Sie hatte nichts in der Hand und er fragte sich, ob sie etwas von Geld verstand.
Der nächste Tag kam und er war wieder da. Und wieder und wieder.
Er wollte sie sehen, ohne zu wissen warum.
Und sie lauschte ihm jeden einzelnen Tag. Selbst wenn er nur dieselben Lieder spielte, sie schien es jedes Mal aufs Neue zu genießen. Manchmal sagte sie nur danke, manchmal warf sie ihm eine kleine Spende vor die Füße, anscheinend ihr Verständnis von Nehmen und Geben damit erfüllend. Gestern war es ein selbst gemaltes Bild gewesen, heute ein kleiner Stoffhund, dreckig braun, sehr oft berührt. Er behielt es in Ehren, wie einen Schatz.
Trotzdem redete er nie mit ihr.
Von der Bäckersfrau erfuhr er, dass die Kleine kein Geld hatte. Die Mutter kannte niemand. Alles um sie herum baute auf Gerüchte auf. Angeblich, so erzählten sich die Leute, sei die Mutter schwer krank und die Kleine kümmerte sich um sie. Er fragte sich, ob das stimmte, stimmen konnte. War so ein kleines Mädchen in der Lage Verantwortung zu übernehmen? Die Frauen vom Bäcker glaubten jedenfalls daran und unterstützten das Kind mit viel Leidenschaft. Nicht nur, dass sie ihr am Abend Reste zusteckten, ab und an versorgten sie dieses fremde Kind mit regelrechten Paketen voller Nahrung, von Obst angefangen bis hin zu Fleisch. Sie sagte immer artig Danke. Mehr nicht. Aber niemand verlangte auch mehr. Allein ihre Art schaffte es Menschenherzen zu bewegen.
Als er am nächsten Tag spielte, hielt sie wieder an. Sie lachte. Das tat sie immer. Obwohl ihre Augen oft auch Tränensäcke aufwiesen. Diesmal horchte sie nicht lange. Kein Wunder. Es wehte ein unangenehmer Wind und Regen lag in der Luft. Als die ersten Tropfen, die ersten Tränen des Himmels fielen, verschwand sie. Hinter ihr blieb die Haustür ein Stück offen. Es war keine Absicht, doch er wollte es nutzen, um sich unterzustellen.
Aber als er in dem Haus war, zog es ihn weiter. Erst in die erste Etage, dann in die zweite. Immer höher. Bis zum Schluss.
Ganz oben stand eine Tür offen. Es roch muffelig. Unerfahren wie er war, hätte er fast gesagt, nach Verwesung. Er wollte nicht, aber irgendwas zog ihn in die Wohnung. Es war dunkel, dämmrig, verdreckt, stinkend. Ein purer Gräuel. Eine Hölle für jemanden wie ihn. Und mitten im Chaos saß sie, das kleine Mädchen und spielte mit einer Puppe. Sie bemerkte sein Eintreten. Aus großen Augen sah sie auf. Er grüßte freundlich. Hob die Hand. Doch es erschien ihm falsch. Allerdings zeigte sie keine Angst. Im Gegenteil. Sie holte aus der Bäckertüte ein Schweinsohr und hielt es ihm entgehen. Ob sie glaubte, dass er Hunger litt. „Mama wollte es nicht“ Ihre Stimme war leise, schwach, ein Flüstern, eine sanfte Brise.
Tränen traten in seine Augen. Mit zittrigen Händen griff er zu, unfähig etwas zu sagen. Im Nebenzimmer hörte er einen Hund bellen.
Tiefe Rührung ergriff ihn. Feuchte Tropfen rannen über seine Wange. Es hätte ihm vielleicht peinlich sein müssen, als Mann zu weinen. Doch er konnte nicht anders. Sein Herz fühlte sich schwer an. Ganz langsam ging er in die Knie.
„Sie wollte es nicht.“ Das traf nicht zu. Sie konnte nicht. Er sah die Frau, liegend auf dem Bett, die vermeintlich Kranke. Aschfahl war sie, wie eine Leiche. Nein, nicht wie eine Leiche. Auf dem Bett lag eine tote Frau. Das Kind wusste es einfach nicht. Niemand hatte es ihr erklärt. Sie dachte ihre Mutter schliefe nur viel. Das Essen, was sie hinstellte, leerte jemand, er wusste, dass es der Hund war. Sie nicht. Sie liebte ihre Mutter, sie pflegte sie mit allen. Und das völlig umsonst. Die Wahrheit würde der Kleinen den Boden unter den Füßen wegreißen. All ihre Kraft hatte sie wahrscheinlich für ihre Mama aufgewendet.
Das Kind war fremd. Nicht Seines. Und Allein. Seit Ewigkeiten schon.
Zwischen Menschen gab es Barrieren, überall auf der Welt. Aber zwischen ihm und diesen Kind fühlte er keine mehr. Seine Arme umschlossen in tiefer Trauer das Mädchen, das Band, das ihn ewig binden sollte.
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Nadja Storm