Eine Weile geborgen
Ich laufe die Straße entlang, ohne Ziel, einfach weg. Mein Atem geht schwer. Ich bin das Laufen nicht gewöhnt. Egal! Einfach nach vorne schauen, laufen und an nichts denken, nur vergessen! Alles vergessen! Seine fordernden Hände, seine gierigen Blicke, sein stinkendes Geschlecht – meinen Ekel, alles vergessen! Nach vorne schauen und rennen! Einfach nur weg, am besten weit weg! Ich laufe. Ich renne. Ich stolpere, dann laufe ich weiter. Plötzlich sehe ich den Bahnhof. Zum ersten Mal blicke ich mich um. Er folgt mir nicht. Erstaunlich! Ich laufe zum Bahnsteig, springe hastig in den Zug, lasse mich fallen in den weichen Sitz. Heiß strömt das Blut durch meine Adern, pocht wild in meinem Kopf, treibt mir kalten Schweiß auf die Stirn. Nicht auffallen! Am besten unsichtbar sein!
Vorsichtig sehe ich mich um. Niemand beachtet mich. Ich schaue aus dem Fenster, sehe die Landschaft vorbeirasen. Allmählich werde ich ruhiger. Ich musste weg! Ich musste einfach! Er redet von Liebe, immer redet er von Liebe. Aber ist das Liebe, wenn er mir keine Luft zum Atmen lässt, wenn er mich gefangen hält wie ein Tier? Ich tauge nichts, sagt er, aber er habe Mitleid mit mir und an seiner Seite solle es mir an nichts fehlen. Ich solle ihm dankbar sein, fordert er, gefällig den Rock heben und die Beine spreizen. Du brauchst mich, beteuert er, alleine kannst du nicht einen einzigen Tag überleben. Scheißkerl! Mit ihm kann ich auch nicht überleben – nicht als Mensch, nicht als die, die ich bin. Aber wer bin ich? Was ist übriggeblieben von mir? Und wo soll ich hin – ohne Geld, ohne Freunde! Nicht einen einzigen Tag, hat er gesagt! Ich habe keinen Cent in der Tasche. Ganz gleich. Mir bleibt keine Wahl. Wenigstens einen einzigen beschissenen Tag will ich überleben, nur einen einzigen Tag, um es ihm zu beweisen! Und wenn der Schaffner kommt? Was passiert, wenn ich erwischt werde? Egal, alles besser als bei ihm zu sein.
Ich blicke aus dem Fenster: braune Felder, kahle Bäume, graue Häuser, fahles Novemberlicht. Alles besser als bei ihm, denke ich und lächle – ich lächle! Ich kann es noch nicht fassen, verstehe nicht, was hier gerade geschieht. Ich bin weg von ihm, einfach weg und ich lebe noch, beginne jetzt vielleicht zum ersten Mal zu leben! Jeder Atemzug ein Triumph, ein Beweis meines Überlebens. Langsam entspannen sich meine Muskeln, der Atem geht tiefer, so tief wie schon lange nicht mehr. Ich werde weich, alles in mir und an mir wird ganz weich, meine Arme wie Pudding, meine Gedanken wie Watte. Die monotonen Geräusche des Zuges verblassen, entschwinden in weite Fernen. Mein Körper ist jetzt ganz leicht, leicht wie eine Feder, ich verlasse den Zug durch die geschlossene Tür. Ich spaziere durch die Luft, blicke auf die Landschaft hinunter. Ich gehe einfach weiter, immer weiter. Es strengt mich nicht an, ist ganz leicht. Ich komme in eine Gegend, die mir seltsam vertraut ist. Dann erkenne ich sie. Ich erkenne das Feld, an dessen Rand wir in die Bäume kletterten und die Wiese, auf der wir den Löwenzahn für die Kaninchen stachen, die Milchbar, in der ich mein erstes Eis kaufte für fünf Pfennige. Der alte Bahnhof, der in den frühen Siebzigern abgerissen wurde, ich sehe ihn ganz deutlich, das hölzerne Gebäude, wie aus einem Western, mit der alten Wirtschaft im Innern.
Ich schmecke das Salz der fettigen Erdnüsse, die ich bekam, wenn ich meinem Opa Alibi war. Er trank Korn und ich verriet ihn nicht, durfte ihn nicht verraten. Ich verstand nicht, warum Erwachsene lügen. Ich verstand nicht, warum mein Opa seinen Schnaps heimlich trank, als wäre er ein Kind. Einem Kind kann man etwas verbieten, aber ein Erwachsener entscheidet doch selber, was er tut. Ich gehe weiter, sehe die vertrauten Straßenzüge, das Schwimmbad, die Schule. Ach ja, die Schule! Sogleich spüre ich den Druck im Magen wieder. Ich denke an die Lehrerin, die meinte, ich tauge nichts, nur weil meine Eltern einfache Leute waren. Ich glaubte ihr – viele Jahre glaubte ich ihr. Und weil ich nichts taugte, versuchte ich die Schule in Brand zu stecken, aber es gelang mir nicht. Schade.
Ich gehe weiter, und da sehe ich es:
das Haus meiner Kindheit,
das Haus, in dem mein Vater meine Mutter verprügelte,
das Haus, in dem mein Vater meine Brüder verprügelte,
das Haus, in dem mein Vater meine Schwester verprügelte,
das Haus, in dem mein Vater mich – anfasste.
Ich war sein Liebling. Ich durfte auf seinem Schoß sitzen, wenn er mittags nach Hause kam und Bier trank. Solange ich klein war, war ich sein Liebling. Solange ich war, wie er mich haben wollte, war ich sein Liebling. Ich wollte nicht, dass er mich schlug. Ich wollte sein Liebling sein.
Das ist doch nicht real, das muss doch ein Traum sein. Ich versuche, wach zu werden, versuche, in die Realität zurückzukehren – es gelingt mir nicht. Ich bin wie berauscht. Ich muss weiter, immer weiter durch das, was war. Das ärgert mich. Ich will nicht. Aber mir bleibt keine Wahl. Also weiter: Die Reise geht über Felder, hin zu einem Wald. Es ist ein Nadelwald. Ich spüre, wie ich panisch werde und weiß nicht weshalb. Ich will nicht in den Wald, aber ich kann nicht anders, ich muss hinein. In Panik und Angst mischt sich eine seltsame Einsicht: Ich war hier schon einmal, aber ich erinnere mich nicht. Es ist so dunkel. Ich will hier raus. Plötzlich weiß ich es: Wir spielten dort Verstecken. Ich suchte meine Brüder und dachte, sie seien ganz in der Nähe. Plötzlich stand er da, dieser Mann, er stand einfach nur da, als hätte er auf mich gewartet. Er trug einen langen, dunklen Mantel und einen Hut. Er stand da und sah mir so intensiv in die Augen, als könne sein Blick mich festhalten. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich wollte schreien, aber es kam kein Laut aus meiner Kehle. Meine Angst stieg ins Unermessliche als er seinen Mantel öffnete und ich sah, dass er darunter nackt war. Ich wollte da nicht hinsehen, aber ich konnte nicht anders. Er fasste an sein Geschlecht und begann daran zu reiben. Erstaunt sah ich, wie es zu wachsen begann. Ich schämte mich für mein Erstaunen, für die Neugier, die meinen Blick auf seine Scham gerichtet hielt. Es war falsch, ihn derart anzustarren, das spürte ich und doch konnte ich nicht wegschauen. Abscheu und Neugier, Scham und Faszination tanzten einen wilden Reigen in meinem Kopf, bis der zu explodieren schien. Mir wurde schwarz vor Augen. Dann war alles still.
Als meine Brüder mich später fanden und mich beschimpften, weil ich völlig verdreckt war, blieb ich stumm. Niemand erfuhr etwas von dem Mann, der mir begegnet war und das half mir, ihn mit der Zeit zu vergessen.
Aus weiter Ferne kehrt das monotone Geräusch des fahrenden Zuges zurück und wird lauter. Ich sehe mich um, sehe einen alten Mann neben einer alten Frau sitzen. Sie halten sich stumm die Hände. Ich sehe eine Frau mit zwei Männern munter und wild gestikulierend plaudern. Ein Mann mittleren Alters vergräbt sich hinter seiner Zeigung, einige Teenager kichern und stupsen sich übermütig in die Seite. Das Leben kann so friedlich sein – und für eine Weile gehöre ich dazu, für eine Weile fühle ich mich geborgen!
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Annabelle Zerlett
blue
11. Nov 2010
boar ist das beklemmend.