Wie groß muss Glück sein?

Gestern traf ich das Glück. Unerwartet und überraschend war unsere Begegnung. Auf dem Weg zur Arbeit, in vollgestopften Zügen und beim Warten auf dem Bahnsteig, trifft man die verschiedensten Leute. Das unter all meinen Begegnungen auch das Glück sein würde, hätte ich nicht einmal in meinen kühnsten Träumen gedacht. Aber wie sollte es auch anders sein? Wer rechnet schon damit, dem leibhaftigen Glück von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Trotzdem, hätte ich mir jemals Gedanken darüber gemacht, wie dieser Moment aussehen würde, hätte ich ihn mir mit Sicherheit vollkommen anders vorgestellt.
Es war einer dieser Tage, an denen alles schiefgeht, das auf irgendeine erdenkliche Weise schiefgehen kann. Das war mir bereits bewusst, als ich mich um halb sechs Uhr morgens aus dem Bett quälte, um mich für meine Arbeit als Verkäuferin fertigzumachen. Unterwegs zum Bahnhofs beeilte ich mich, um den Zug nicht zu verpassen – absolut unnötig, wie sich herausstellte, den die Bahn hatte über eine halbe Stunde Verspätung. Während dieser Zeit stand ich vor Kälte zitternd am Bahngleiß und durfte mir das Geschwätz eines Mannes anhören, der sich in den Kopf gesetzt hatte, meine Telefonnummer zu ergattern. Man kann sich vorstellen, wie erleichtert ich war, als der Zug endlich ankam und ich mich schweren Herzens von ihm verabschieden musste.

Leider wurde mein Tag auch danach nicht besser. Eine Zugfahrt, die ich eingequetscht zwischen einer Horde Schüler verbrachte, viele unfreundliche Kunden und noch mehr Arbeit später fand ich mich im Büro meines Chefs wieder, wo ich zwanzig Minuten damit verbrachte, ihm zu erklären, warum die Bestellung des letzten Monats noch nicht eingetroffen war. Eine nicht ganz einfache Angelegenheit, wenn man keine Ahnung hat, was der Grund sein könnte.
So kam es, dass ich meiner Unsportlichkeit zum Trotz die Beine in die Hand nehmen und laufen musste, um den Zug noch rechtzeitig zu erreichen. Mein Herz klopfte bis zum Hals und ich konnte ein Keuchen nur noch mühsam unterdrücken. Wie gerne wäre ich einfach stehengeblieben und hätte die frische Herbstluft tief in meine Lungen gesogen, bis sie aufhörten, vor Anstrengung zu brennen! Doch das ging nicht. Schon jetzt war ich viel zu spät dran und durfte mir nicht die kleinste Pause erlauben, wenn ich nicht zum zweiten Mal an diesem Tag in der Kälte warten wollte.
Als ich am Bahnhof ankam, stand der Zug bereits abfahrbereit auf den Schienen. Mit all meiner verbliebenen Kraft sprintete ich ihm entgegen, doch es war bereits zu spät. Ein schrilles Pfeifen ertönte und das riesige Gefährt setzte sich in Bewegung.
„Scheiße!“, rief ich und stampfte vor Wut auf.
Da hörte ich eine leise Stimme zu meinen Füßen: „Hey, geh von mir runter!“
Erschrocken machte ich einen Satz zurück und warf einen prüfenden Blick auf das winzige Etwas zu meinen Füßen.
„Wer bist du?“, wollte ich wissen.
„Ich? Ich bin das Glück!“, verkündete es stolz und grinste dabei von einem Ohr zum anderen.
Ein Lachen entfuhr meiner Kehle. Dieses unscheinbare Ding bildete sich tatsächlich ein, das Glück zu sein? Dabei wusste wohl jeder, dass das Glück mächtig sein und in allen Farben des Regenbogens erstrahlen musste. Bestimmt war es das Schönste und Größte, das jemals ein Mensch erblickt hatte. Auf dieses kleine Wesen am Boden traf das allerdings definitiv nicht zut.
„Was gibt’s da zu kichern?“, fuhr es mich wütend an.
„Tut mir leid“, ich musste mich zwingen, nicht noch einmal loszulachen. „Aber ich habe da wohl etwas falsch verstanden. Ich dachte gerade, du hättest gesagt, du seist das Glück.“
„Ja, ganz genau, das bin ich!“, antwortete es.
„Bist du dafür nicht ein bisschen zu …?“
„Zu klein?“, fragte das Glück.
Genau das hatte ich sagen wollen, es mir dann aber anders überlegt. Denn wer weiß, vielleicht hatte das kleine Ding tatsächlich die Wahrheit gesagt. Am Ende würde es mir nur Unglück bringen, das Glück zu beleidigen. Trotzdem nickte ich verlegen.
„Oh, nein!“, belehrte mich das Glück. „Ich muss so klein sein. Stell dir doch mal vor, ich wäre größer. Dann könnte mich ja jeder sehen!“, dabei schaute es mich an, als hätte ich eine vollkommen absurde Frage gestellt.
„Aber wäre es nicht gut, wenn man dich sehen könnte?“
Diesen Vorschlag schien das Glück ziemlich amüsant zu finden, denn nun war es an ihm, laut zu lachen.
„Was für eine komische Idee!“, quiekte es. „Wo kämen wir denn hin, wenn mich jeder sehen würde. Die Leute hätten doch den lieben langen Tag nichts Besseres zu tun, als mich mit ihren Wünschen zu überhäufen, und ich hätte gar keine Zeit mehr, meine Arbeit zu machen.“
Das leuchtete mir ein und als ich endlich aufhörte, mir über die Größe des Glücks Gedanken zu machen, wurde mir erst klar, mit wem ich gerade sprach.
„Wow, das ist echt unglaublich! Ich hätte nie gedacht, dass ich dich wirklich einmal treffen würde!“, rief ich.
„Wieso das denn? Ich bin doch immer da! Wenn du mich nicht siehst, ist das nicht meine Schuld!“, entgegnete das Glück ziemlich empört. „Letzte Woche zum Beispiel habe ich dir fünf Minuten lang von einem Regenbogen aus zugewunken, aber du hast einfach an mir vorbeigeschaut!“
„Oh, das tut mir leid.“
Es zuckte die Schultern: „Das muss dir nicht leidtun. Ich soll ja auch nicht gesehen werden, das ist der Sinn der Sache! Aber jetzt muss ich los. Es wartet eine Menge Arbeit auf mich. Das bleibt alles liegen, keine Zeit zum Trödeln!“
„Warte!“, rief ich, bevor es verschwinden konnte. „Wo kann ich dich finden, wenn ich noch einmal mit dir reden möchte?“
„Das kann ich dir jetzt nicht sagen. Ich habe so viel zu tun, da bin ich ständig unterwegs! Iim Vorhinein weiß ich nie, wo ich später sein werde. Aber sei dir sicher, wir werden uns wiedersehen, wahrscheinlich früher als du denkst. Schließlich komme ich überall hin, manchmal habe ich sogar das Gefühl, an mehreren Orten gleichzeitig zu sein. Bestimmt bin ich auch bald wieder bei dir!“
Und mit einem letzten Winken war es verschwunden.

Als ich mich am nächsten Tag wieder auf den Weg zum Bahnhof machte, begann es zu schneien. Kinder liefen auf die Straße, lachten und versuchten, die dicken Flocken mit ihrer Zunge aufzufangen.
Ich weiß, dass das Glück da war. Denn – und wahrscheinlich bin ich die einzige, die es bemerkte – ich hörte sein leises Lachen auf der anderen Seite der Straße.

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Christina Fuchs