Zwölf Jahre einfach

Autos hupten und quälten sich durch die stark befahrenen Straßen. Von irgendwoher drang Baustellenlärm. Rod Beezcrown kämpfte sich durch das Gewühl von Fußgängern auf dem belebten Bürgersteig. Passanten kamen entgegen, wichen aus, überholten ihn. Manche blieben stehen und unterhielten sich, andere fragten am Kiosk nach irgendetwas.
Lichtreklamen an den Häuserfassaden blinkten in allen Farben, die Schaufenster waren hell beleuchtet und mit allerlei Ausstellungsware dekoriert. Die Türe eines Restaurants wurde geöffnet und der verlockende Duft saftiger Grillhähnchen drang in sein Bewusstsein.
Er empfand angenehmes Verlangen. Speichel sammelte sich im Gaumen.

Pünktlich um 8:30 Uhr fand er sich im orthopädischen Trainingsraum ein. Er nahm auf der Liege Platz, alles andere erledigte die Maschine. Bestmögliches Training des menschlichen Bewegungsapparates hieß es, mit besonderem Schwerpunkt Erhaltung belastungsintensiver Muskel- und Gelenkfunktionen. Täglich durchzuführen. Eine computergesteuerte Vorrichtung bewegte ihm dabei Beine, Arme, Rücken- und Halswirbel. Jeden Tag eine Stunde.

10:00 Uhr: Zwei Stunden Arbeitsprogramm. In Anführungszeichen, dachte Rod immer, denn es hätte besser Beschäftigungsprogramm heißen sollen. Der Computer stellte Aufgaben, die sogleich beantwortet bzw. bearbeitet werden mussten. Die Qualität der Antworten bestimmte, ob zusätzliche Trainings notwendig wurden. Geistige Belastungsfähigkeit war unabdingbar bei solchen Reisen.

12:30 bis 14:00 Uhr: Mittagspause. Die vollautomatisierte Küche hatte bereits dafür gesorgt, dass das fertige Essen auf dem Tisch stand. Es sah aus wie Hackbraten mit dunkler Soße, Kartoffeln und Gemüsebeilage. Es roch auch so. Man durfte nur nicht daran denken, dass es – wie auch alle anderen Gerichte, die auf dem Speiseplan standen – zum überwiegenden Teil immer wieder aus den selben recycelten Abfällen zubereitet wurde. Dann schmeckte es auch. Früher, als Julian und Oboku noch dabei waren, störte es nicht so, denn die Gespräche mit ihnen lenkten ab. Aber in den letzten Jahren saß Rod nur noch da und würgte das Essen lustlos in sich hinein. Anfangs dachte er, wenn er überließe, wäre das nächste Mal nicht alles nur wiederaufbereitet; aber die Elektronik ließ sich nicht täuschen. Als Reaktion auf zu wenig aufgenommene Kalorien wurden medizinische und – was noch schlimmer war – psychologische Tests und Therapien angeordnet, denen man sich, wie man es auch anstellte, auf Dauer nicht entziehen konnte.
Die Mittagspause schloss auch die Mittagsruhe mit ein. Das hieß: ein Nickerchen machen, eine der wenigen Empfehlungen, die Rod’s uneingeschränkte Zustimmung fand.

Die Sonne, man konnte ihr ins Gesicht sehen. Wellen mit weißen Schaumkronen brandeten gegen den schon pastellfarbenen Sandstrand. Möven kamen kreischend landwärts.
„Komm jetzt, Rod.“

Um 14:10 Uhr kam Rod in die Pilotenkanzel. Die Anzeige auf dem Service-Monitor wies bereits alle Geräte und Systeme auf, die an diesem Tag überprüft werden mussten. Das machte zwar auch die Elektronik von sich aus, aber zum einen wollte man immer auf Nummer Sicher gehen, zum anderen war es eine Aufgabe, die Rod das Gefühl vermittelte, etwas Verantwortungsvolles zu tun. Die Arbeit zog sich manchmal über mehrere Stunden hin, vor allem dann, wenn die Elektronik beim Abgleich des Prüfberichtes Abweichungen zu ihren eigenen Messergebnissen feststellte.

16:00 Uhr: Kraft- und Ausdauertraining im Fitnessraum. Anschließend Duschen.

17:20 Uhr: Gesellschaftsraum. Einspielung der Nachrichten von der Erde, mittlerweile nur noch 2 Jahre alt. Nichts Dramatisches. Ein paar Wahlen, Erdbeben, neue Chemiefabrik auf der Venus eingeweiht und Ähnliches. Globale Wetterkapriolen. Waldbrände und Überschwemmungen.
Anschließend ein Film über Forstwirtschaft in Amerika. Wunderschöne Bilder, wunderschönes Grün. Plätschern von Gebirgsbächen, Tosen von Wasserfällen.
Im Anschluss daran interaktives Sozialisationstraining. Schwierigkeitsgrad, Situation und Charakter der Gegenspieler bestimmte die Computersteuerung nach den Wesenstests der jeweils vorangegangenen Übungen. Rod gab sich redliche Mühe, aber er hatte das Gefühl, dass das Training von Woche zu Woche härter wurde. Der Psychocontroller war so programmiert, dass er nur in Notfällen eingriff. Anfangs, bei drei Besatzungsmitgliedern, die gut miteinander auskamen, hatte er sich ganz zurückgehalten. Nach dem Tod Oboku’s, der bereits beim Hinflug trotz bester Gesundheit völlig überraschend an Herzversagen gestorben war, hatte er mit der Betreuung begonnen. Anfangs begnügte er sich mit Seelsorge und Psychostabilisierung. Vielleicht zu viel. Zumindest für Julian, der es bald nicht mehr ertragen konnte. Das musste er auch nicht. Er war einer von denen, die sich für den Verbleib auf dem Exoplaneten gemeldet hatten. Er würde die Erde wahrscheinlich nie wieder sehen.

Nach dem Abendbrot, also am Abend, d.h. in der Zeit, die die Borduhr zwischen 18:00 und 22:00 anzeigte, versuchte Rod erst, e-mails an Bekannte zu schreiben, was er dann aber als sinnlos erachtete und abbrach. Dann nahm er der Reihe nach drei E-Bücher zur Hand und versuchte zu lesen, gab es aber wieder auf, weil er sich nicht konzentrieren konnte und ließ sich dafür auf dem großen Bildschirm ein halbfertiges 500-Teile-Puzzle anzeigen, in das er in einer Stunde sieben Teile einfügte. Wäre es ein echtes aus Pappe gewesen, hätte er es am Schluss in die Ecke geworfen.
Während das Raumschiff mit 120.000 Kilometern pro Sekunde durch das All raste, legte Rod sich mit wachem Körper, aber müdem Geist schlafen.

Im Alter von 22 Jahren war Rod ausgewählt worden, am Projekt Wachkind III teilzunehmen. Nur überdurchschnittlich intelligente, charakterfeste, belastungsfähige und absolut gesunde Menschen hatten die Chance gehabt. Und ungebunden mussten sie sein, denn sie würden 25 Jahre unterwegs sein. Viele ihrer Vertrauten würden bei ihrer Heimkehr nicht mehr am Leben sein. An eine Life-Kommunikation war nicht zu denken. Am entferntesten Punkt würde selbst ein Funkspruch vier Jahre unterwegs sein. Rod bereute insgeheim immer öfter, dass er sich darauf eingelassen hatte.

Wachkind war der nächstgelegene extrasolare Planet mit sauerstoffhaltiger Atmosphäre. Er umkreiste Alpha Centauri A, wobei er während der Hälfte seines Jahres von zwei Sonnen beschienen wurde. Eine phantastische Vorstellung, die die Reisestrapazen der ersten Jahre vergessen ließ. Rod gehörte der dritten Expedition an, die in Abständen von jeweils drei Jahren aufbrachen und die Errichtung einer Sation vorbereiten sollten. Nach sechs Jahren, als ihnen das erste zurückkehrende Raumschiff im Vorbeiflug einen Bericht übermittelte, erfuhren sie, dass Wachkind von einer dichten, nie aufreißenden Wolkendecke umgeben ist. Ewige Düsternis herrschte auf dem Planeten. Keine Sonne auf der Haut.

0:23 Uhr: Rod wälzt sich schweißgebadet im Bett. Wieder hatte er so einen trostlosen Traum, der ihn nicht nur betroffen stimmte, sondern ihm auch ein schlechtes Gewissen machte. Seine Eltern, seine Geschwister, die besten Freunde, alle tot. Sollte er sich noch auf die Erde freuen?

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Neil Itch