Der Zukunft entgegen

„Du musst zugeben, dass es schön war! Ich habe dich beobachtet: es hat dir gefallen!“
„Es hat mir gefallen, dass es dir gefallen hat! Es ist schön, dich glücklich zu sehen.“
„Du alter Charmeur!“ Lucy beugte sich zu Richard und zwickte ihm spielerisch in die Seite, wohlwissend, wie kitzelig er war.
„Hey, lass das!“ Rief er und versuchte, sich zur Seite wegzudrehen. „Ich muss doch auf die Straße achten! Das geht nicht, wenn du mich ablenkst!“
„Dann sag endlich, dass es ein toller Abend war!“
„Es war toll, mit dir zu tanzen.“
„Richard!“ Sie streckte schon wieder ihre Arme nach ihm aus, doch er wehrte vorher ab. „Okay, dieser Abend war nicht so schrecklich wie ich erwartet hatte. Zufrieden?“ Lucy zog eine Augenbraue hoch. „Naja, zufrieden nicht wirklich. Zwischen „ein schöner Abend“ und „nicht so schrecklich“ liegen schließlich Welten. Aber wahrscheinlich ist es alles, was ich aus dir herauskriegen werden.“ „Ganz genau!“ Bekräftigte Richard mit einem Kopfnicken und grinste fröhlich vor sich hin.

Eine Weile schwiegen beide. Es hatte zu regnen begonnen. Nur das Prasseln der Tropfen auf Windschutzscheibe und Dach war zu hören.
„Schade ist es schon, dass jetzt alles vorbei ist“, sagte Lucy plötzlich. Als Richard nicht reagierte fuhr sie fort: „Ich meine, du gehst zur Schule und siehst jahrelang die gleichen Leute und dann auf einmal, ist alles anders. All die Sicherheiten und die Gewohnheiten sind nicht mehr. Alles driftet auseinander. Ist dir klar, dass wir die meisten unserer Schulkameraden nicht mehr wiedersehen werden? Vielleicht in ein paar Jahren, auf irgendeinem Abschlusstreffen; wenn überhaupt. Das heute war unser letzter gemeinsamer Abend! Jetzt geht jeder seinen eigenen Weg.“
„Glaub mir, Lucy: Du wirst schon sehr bald einen Haufen neuer Freunde haben. Neue Gewohnheiten, neue Sicherheiten. Warte erst mal ab, bis du im Herbst mit dem Studium beginnst, dann wirst du ganz schnell diesen Schulalltag vergessen haben und dich bestimmt nicht nach ihm zurücksehen.“
„Wer weiß… Aber andererseits freue ich mich auch. Endlich geht das Leben richtig los. Die Zukunft liegt vor uns!“ Sie machte eine ausladende Armbewegung zur Verdeutlichung, dann fuhr sie fort: „Richard, kannst du den Scheibenwischer nicht etwas schneller stellen? Ich kann kaum etwas sehen.“
„Du musst ja auch nicht so viel sehen; schließlich fahre ich. Und mir reicht das vollkommen. Außerdem mag ich es nicht, wenn ständig dieser Wischer auf und abgehen.“
„Dann fahr wenigsten etwas langsamer. Die Straße ist bestimmt rutschig.“
„Lucy!“ Richard drehte sich genervt zu seiner Beifahrerin. „Ich fahre, nicht du!“
„Was hast du denn plötzlich für eine schlechte Laune?“
„Nichts! Lass mich einfach in Ruhe!“ Richard starrte grimmig nach vorn. Lucy wusste nicht recht, wie sie auf diesen Stimmungsumschwung reagieren sollte. Und woher er überhaupt kam. Ihre Kritik an seiner Fahrweise konnte es sicher nicht gewesen sein, so oft wie die beiden schon gemeinsam unterwegs gewesen sind und nie hatte sie sich anderes verhalten. Was also was dann der Grund?
Langsam dämmerte es Lucy. „Du weißt noch immer nicht, was du machen willst?“ Richard deutete ein Kopfschütteln an. „Oh. Dann verstehe ich jetzt auch, warum du eigentlich gar nicht zum Ball hattest gehen wollen. Wenn alle von ihren großen Plänen für die Zukunft reden. Du musst dich sehr außen vor gefühlt haben…“
„Was weißt du schon, wie ich mich fühle?!“ Herrschte Richard sie plötzlich an.
Lucy war vor Schreck zusammen gezuckt. „Ich dachte nur…“
„Ach, sei einfach still!“
„Richard! Wir sind seit Jahren befreundet! Glaubst du ernsthaft, es interessiert mich nicht, wie es dir geht? Sag‘s mir, wenn du dich schlecht fühlst! Ich kann dir vielleicht helfen! Auf jeden Fall bin ich bei dir!“
„Das verstehst du ja doch nicht.“
„Dann erklär es mir!“ Sie hatte ihn an der Schulter gefasst. Bittend, fast flehend sah sie ihn aus großen Augen an. Richard drehte den Kopf. „Ich kann es dir zeigen, wenn du willst.“ Der Hauch eines Lächelns lag auf seinen Lippen. Unangebracht und somit ein bisschen furchteinflößend, wie Lucy fand. „Okay“, sagte sie skeptisch. „Dann zeig es mir.“
Richard schaute wieder nach vorn auf die Straße. Erst passierte nichts, dann streckte er blitzschnell seine linke Hand aus und schaltete das Licht aus. Lucy schrie auf. Ihre Finger krallen sich in Richards Schulter. Tiefschwarze Dunkelheit umgab sie. Sie befanden sich auf einer Landstraße. Hier gab es keine Laternen, nicht einmal erleuchtete Häuser. Der Motor heulte auf, als Richard das Gaspedal durchtrat.
„Verdammt Richard! Bist du wahnsinnig? Mach das Licht wieder an! Nein, halt an! Sofort!“ Lucy kreischte und rüttelte an ihm. Er jedoch blieb gänzlich ruhig. Nach einem Moment, der Lucy wie eine Ewigkeit vorkam, schaltete Richard das Licht wieder an. Lucy atmete schwer. Ihre Stimme bebte, als sie ihn anwies, sofort rechts ran zu fahren. Richard leistete ihrer Anweisung Folge, ohne den leisesten Protest. Er hielt an und schaltete den Motor aus.
„Willst du uns beide umbringen?“
„Nein.“ Nach Lucys Geschmack antworte Richard ein wenig zu ernst auf ihre Frage.
„Nein!? Oh, dann bin ich ja beruhigt! -Steig aus! Ich fahre den Rest nach Hause.“ Richard stieg aus dem Auto und ging um es herum zur Beifahrerseite, während Lucy über den Schalthebel kletterte und sich auf den Fahrersitz setzte. Als Richard nach nur wenigen Sekunden wieder im Auto saß, war er klatschnass. Regentropfen lösten sich aus seinem Haar, rollten sein Gesicht hinab. Wie Lucy ihn ansah, überkam sie Mitleid. Immerhin hatte sie wissen wollen, wie er sich fühlte. Wenn es das war, war Richard womöglich der verlassenste Mensch, den sie sich denken konnte. Die Angst, die sie nur für einen Wimpernschlag gefühlt hatte, saß ihm ständig im Genick. Nicht zu wissen, wohin es geht, wo man ist, vielleicht nicht einmal, woher man kommt und was überhaupt passiert. Der sich nicht erfüllende Wunsch nach Stillstand. Lucy schüttelte die Gedanken ab. Sie startete den Motor und fuhr los.
„Es tut mir leid, Richard.“
„Es gibt nichts, was dir leid tun müsste.“
„Ich dachte immer, ich sei dir eine gute Freundin, dabei…“
„Das bist du! Es ist nicht deine Schuld. Hörst du?“ Sie nickte. „Gut. Dann lass uns jetzt einfach nach Hause fahren. Ich bin schrecklich müde.“ Er strecke sich und gähnte betont laut. Lucy musste unwillkürlich lächeln. Sie tastete nach ihm, den Blick nicht von der Straße lassend. Fuhr ihm durchs Haar und über die Stirn. Richard faste ihre Hand, hielt sie sich an die Wange. Ihre Finger hielt er umschlossen, so dass sie nur noch ihren Daumen bewegen konnte, der sanft seine Haut entlangfuhr. Sie drehte ihm den Kopf zu. „Du weißt doch Richard, wie man sagt: Am Ende des Tunnels ist immer ein Licht.“ Sie lächelte ihn an. Er lächelte zurück. Und in ihren Augen war ein Leuchten, das Richard erst viel zu spät den Scheinwerfern des entgegenkommenden Fahrzeugs zuordnen konnte. Er blickte nach vorne und alles was er sah, war ein gleißend helles Licht, welches sein gesamtes Sichtfeld erfüllte. Ohne die Zeit zum Nachdenken zu haben, griff Richard Lucy ins Lenkrad und warf es herum, um einem frontalen Zusammenstoß zu entgehen. Wären sie nur einige Meter weiter von dem anderen Auto entfernt gewesen, sie wären ohne Schaden an einander vorbei gefahren. Aber so wurden sie heftig in die Seite gerammt.
Ein Schlag, quietschende Reifen, splitterndes Glas. Richard fühlte, wie warmes Blut seine Schläfen hinab lief. Er sah Lucys Gesicht, wie es sich über ihn beugte. Dem Ausdruck in ihren Augen nach zu urteilen, musste er schrecklich ausgesehen haben. Ihr hingegen schien nichts weiter passiert zu sein. Diese Gewissheit zumindest beruhigte ihn, als er das Bewusstsein verlor.

_____________
Nina Scholle