Marlon
Wenn ich nervös bin, laufe ich. Stundenlang. Ich kann nicht anders. Sobald ich stehen bleibe, holen meine Gedanken mich ein. Umzingeln mich. Kreisen mich ein. Rücken mir auf die Pelle. Werden immer lauter. Ich laufe vor ihnen davon. Meine neuen Laufschuhe sind schon ziemlich ramponiert. Aber das macht nichts. Am liebsten laufe ich irgendwo, wo ich niemandem begegne, der mich kennt. Zum Glück kennen mich hier nur wenige. Ein paar Nachbarn, die Mitschüler.
Wenn Marlon schreit, verlasse ich sofort das Haus. Ich laufe. Bei Regen, bei Wind, bei Hagel. In der Dunkelheit. Am Fluss entlang, durch die Straßen, durch den Park. Manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich im letzten Jahr nichts anderes getan als Laufen. Meine Oma hat immer gesagt, Laufen macht den Kopf frei. Mein Kopf wird nicht frei vom Laufen. Sobald ich stehen bleibe, sind die Gedanken wieder da und drehen sich im Kreis. Kopfkarussell. Aber während ich laufe werden die Gedanken leiser. Am Besten ist es, wenn die Füße schmerzen und ich kaum Luft bekomme. Dann werden sie so leise, das es scheint als seien sie verstummt.
Meine Freundin Lena versteht mich nicht. Ist doch süß, der Kleine, sagt sie. Und dass sie auch gern einen kleinen Bruder hätte. Sie hat ja keine Ahnung.
Meine Mutter versteht mich auch nicht. Sie kann nicht begreifen, dass mich Marlons Geschrei so nervös macht. Ich soll mich auf die Schule konzentrieren, sagt sie. Alles andere sei jetzt nicht so wichtig. Und dass ein Baby schreit, sei normal. Leicht gesagt. Manchmal sitze ich in der Schule und höre Marlon schreien. Dann kann ich nicht davonlaufen. Ich muss die Klasse wiederholen. Im letzten Jahr habe ich zu oft gefehlt. Da hat es dann zu einer Versetzung nicht gereicht.
Als Marlon unterwegs war, haben sie sich alle das Maul zerrissen. Eine Schwangerschaft in diesem Alter und wer denn überhaupt der Vater sei. Deshalb sind wir aus unserem kleinen Dorf weggezogen. Hier in der Stadt kennt uns niemand. Aber ich vermisse unser Dorf. Meine Mutter meinte, es sei besser alle Kontakte abzubrechen. Wir hätten ja schließlich uns. Nur wir beide. Und Marlon natürlich.
Als Marlon krank war, habe ich das Haus wochenlang nicht verlassen. Da bin ich Treppen gelaufen. Hinauf, hinab und wieder hinauf. Stundenlang. Meine Mutter sagt, es hat sie ganz krank gemacht. Nervös. Wenn meine Mutter nervös ist, raucht sie. Sie öffnet zwar das Küchenfenster, aber der Rauch zieht von der Küche in den Flur, der Luftzug treibt ihn die Treppe hinauf, er steigt in mein Zimmer. Bis mir schlecht davon wird. Das kann auch für Marlon nicht gut sein. Aber auf mich hört sie nicht.
Jetzt aber laufe ich wieder draußen am Fluss. Heute bin ich schon seit Stunden unterwegs. Es hat angefangen zu schneien, bald wird es dunkel werden. Meine Füße sind so kalt, dass ich sie nicht mehr spüre. Sie tun nicht einmal mehr weh. Die Gedanken flüstern in meinem Kopf. Meine Mutter wird sich Sorgen machen, mein Handy ist ausgeschaltet. Ich weiß noch nicht, wann ich es wage, wieder nach Hause zu gehen.
Ich habe es gut, sagt meine Mutter. Als sie so alt war, hat sie es nicht so gut gehabt. Keiner hat sich wirklich gekümmert. Auch Oma nicht. Man hat sie mit ihren Problemen allein gelassen. Aber sie ist auch nicht besser. Sie lässt mich nicht allein, aber sie nimmt mir mein Leben. Sie bestimmt, wie es zu sein hat, und ich kann nichts dagegen tun. Ich darf noch nicht einmal eigene Probleme behalten.
Heute ist kein guter Tag. Ich laufe und laufe und laufe. Inzwischen schläft Marlon wahrscheinlich. Das wäre eine Gelegenheit mit meiner Mutter zu sprechen, aber sie hat nie Zeit. Wenn Marlon schläft, muss sie am Computer sein. Sie macht Heimarbeit, aber davon können wir nicht gut leben. Auch das ist meine Schuld, auch dafür soll ich dankbar sein. Vielleicht werde ich ihr irgendwann dankbar sein. Ich weiß es nicht.
Marlon hat heute das erste Mal Mama gesagt. Meine Mutter hat ihn angelächelt. Ob sie mich auch so angelächelt hat, als ich klein war? Oder hat sie mich nicht gemocht? Ich war ja nicht geplant. Ein Unfall. Als Marlon unterwegs war, hat sie mir gesagt, dass ich damals ihr Leben zerstört hätte. Sie war ja erst sechzehn. Es zerreißt mich, wie sie Marlon sie anlächelt. Sie hat Tränen der Rührung in den Augen, als er Mama sagt. Ich bin neidisch. Ich weiß nur nicht, auf wen. Auf Marlon, auf meine Mutter? Manchmal hasse ich sie. Marlon kann nichts dafür, dass er sie anlächelt, dass er Mama zu ihr sagt. Er weiß nicht, dass sie seine Großmutter ist.
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Evelyn Leip