Hupen

Dr. Martin Meyer saß am Schreibtisch und war verzweifelt. Vor ihm lag eine Aufstellung mit 16 Spalten horizontal und 12 Reihen vertikal. Im Schnittpunkt jeder Spalte und Reihe befand sich eine Zahl. Die Summen der Reihen und die Summen der Spalten mussten zum selben Ergebnis führen. Auf dem vor ihm liegenden Blatt war das nicht der Fall. Die Differenz, die Dr. Meyer hatte, war „Zwei“ und das war das Problem! Eigentlich sollte so ein Problem für Dr. Martin Mayer nicht existieren. Er war Diplom-Kaufmann und hatte über die Gewinnmaximierung in der Pharmaindustrie eine sehr beachtete Doktorarbeit geschrieben. Um allerdings die Chance auf einen hochdotierten Arbeitsplatz in der Pharmaindustrie zu haben, musste er erst einmal praktische Erfahrung gewinnen. Zu diesem Zweck saß er in der Profitanalyse eines multinationalen Pharma-Unternehmens. Er hatte einen dreimonatigen Praktikumsvertrag. Für eine, im Durchschnitt 45 stündige Arbeitswoche, erhielt er 500 € im Monat. Im Allgemeinen war er nicht unzufrieden, denn die meisten Praktikanten bekamen weniger. Aber heute musste er bis spätestens halb sieben diese Schedule korrigieren. Vor ihm lagen 25 weitere Blätter. Für jedes EU-Land gab es ein Blatt, das die europäischen Märkte mit den jeweiligen Volumen, Umsätzen, Kosten und Gewinnen zeigte. Jedes dieser Blätter zeigte rechts unten eine Zahl, die sich durch die Addition oder Subtraktion der Spalten und Reihen ergab. Es war das letzte Blatt mit der Überschrift „Italien“ auf dem die Summen der Reihen und die Summen der Spalten um zwei differierten. Im Großraumbüro saß außer ihm nur ein Kollege. Der war allerdings fest angestellt und würde später die Profits aller europäischen Märkte an das amerikanische Hauptquartier übermitteln. Nur seine Blätter fehlten um diese Tätigkeit zu beginnen. An der Seite des Großraumbüros befand sich das Büro des europäischen Managers, „Profit Analyse“ und auf einmal ließ die Geräuschkulisse hinter der Tür darauf schließen, dass sich Karl Schmitz daran machte heimzugehen.

In Dr. Meyer stieg Panik auf. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Sie zeigte, dass halb sieben sogar schon um drei Minuten überschritten war. Sein Blutdruck beschleunigte wie ein Formel 1 Rennwagen. Gleichzeitig krampfte sich sein Magen zusammen und ihm wurde schlecht. Vor zwei Stunden hatte sich Karl Schmitz nach dem Stand seiner europäischen Märkte erkundigt und er hatte ihm ganz lässig verkündet, dass er in fünf Minuten fertig sei. Die Klärung der noch bestehende Differenz von 2000 $ war ein Klacks. Als er das sagte, stand neben Karl Schmitz noch ein Praktikant, der für dieselbe Kalkulation im vorigen Monat zwei Stunden länger gebraucht hatte. Dr. Meyer nutzte die Gunst der Stunde, um klarzumachen, dass er auf jeden Fall die bessere Wahl für eine demnächst freiwerdende Stelle war. Plötzlich fiel ein Schatten auf seine Auflistungen und neben ihm stand sein Kollege, der für die europäische Konsolidierung der europäischen Märkte und für das Übermitteln des Ergebnisses an das US Hauptquartier zuständig war. Der Kollege war nur knapp älter als er selbst, wurde allerdings für diese Tätigkeit fürstlich entlohnt. Sofort fiel ihm ein, dass der Kollege nur eine Ausbildung gemacht hatte. Er selbst hatte bei Doktor Schmitz anklingen lassen, dass so etwas in einer Führungsposition nicht mehr zeitgemäß war.

„Sie scheinen irgendwie in Schwierigkeiten zu stecken?“

Dr. Meyer blickte auf in ein gutmütiges Gesicht. Er schwieg einen Moment und analysierte den Tonfall der Frage. War er schadenfroh? Herablassend? Überheblich? Abfällig? Respektlos? Arrogant? Diffamierend? Verachtungsvoll? Boshaft? Hämisch? Dann kam er zu dem Schluss: Es ließ sich nichts heraushören.

„Es ist noch ein Fehler in Italien. Es stimmt um zweitausend Dollar nicht…. bei einer Gesamtsumme von 2 Milliarden!“

Dr. Meyer war mit sich und seiner Antwort zufrieden. Er hatte das Problem geschildert aber zugleich mit dem Hinweis auf die Gesamtsumme geschickt relativiert. Gleichzeitig war er irgendwie erleichtert, das Problem beim Namen genannt zu haben.

„Lassen Sie mal sehen!“

Der Kollege nahm ihm das vor ihm liegende Blatt aus der Hand und setzte sich an den leeren Schreibtisch ihm gegenüber. Er schaute konzentriert auf das Blatt. Seine linke Hand tastete nach der Rechenmaschine auf dem Schreibtisch. Dann hielt er in seiner Beschäftigung inne und hob den Kopf.
„In einer Spalte ist eine Zahl mit einem negativen Vorzeichen. Das haben sie übersehen.“

Dr. Meyer fiel ein Stein vom Herzen und er wusste, wie es dazu kommen konnte. Er kannte jede Zahl auf dem Blatt auswendig, aber er hatte das Vorzeichen übersehen. „Danke schön!“ Er änderte zwei Felder auf seinem Blatt und überreichte seinem Kollegen den ganzen Stapel Blätter. „Das können Sie jetzt alles an das Hauptquartier übermitteln!“ Der Kollege klemmte sich die Papiere unter den Arm, ging zu seinem Arbeitsplatz und fing an die Zahlen in ein System einzugeben.
Karl Schmitz trat aus seinem Büro und schloss die Tür ab. Dann schaute auf, stutzte als er Dr. Meyer noch da sitzen sah. Er schaute hinüber zu dem Kollegen, der die Eingaben machte. Als er sah, dass der fleißig tippte, warf er ein „Schönen Abend“ in den Raum und ging zum Aufzug. Ohne weitere Verzögerung packte Dr. Meyer seine Sachen zusammen und folgte mit denselben Worten zum Aufzug. Die Anzeige des Aufzuges zeigte eine Eins. Dort hatte Karl Schmitz seinen Firmenparkplatz. Dr. Meyer fuhr mit dem Aufzug ins Erdgeschoss und ging wie in Trance zu seinem Parkplatz außerhalb des Firmengeländes. Dort stieg er in seinen Käfer und machte sich auf den Heimweg. Er war auf einmal ziemlich müde. Die nervliche Belastung hatte seine Spuren hinterlassen und er war nur froh, dass alles gut ausgegangen war. Es war reger Verkehr auf den Straßen. Er dachte an nichts, höchstens einmal kurz an das bevorstehende Abendessen. Plötzlich wurde er aufmerksam! Die vor ihm stehende Ampel zeigte seit geraumer Zeit grün, aber sein Vordermann fuhr nicht weiter. Dr. Meyer hupte um den schlafenden Fahrer zu wecken. Der Vordermann fuhr an und stand wieder. Die Ampel schlug auf Gelb und dann auf Rot um. Hinter ihm hupte noch jemand. Dr. Meyer betrachtete das vor ihm stehende Fahrzeug und es war, als ob er aus einem Tiefschlaf erwachte und seine Nerven waren wieder gespannt. Das Fahrzeug war ein neuer schwarzer Oberklasse Mercedes. Er schaute auf das Kennzeichen und dann war er sich sicher, gerade seinen Chef, Karl Schmitz, Manager der europäischen Gewinnanalyse, angehupt zu haben. Seine Handflächen wurden feucht und sein Blutdruck stieg wieder in ungesunde Höhen. Hinter ihm hupte wieder jemand als die Ampel grün wurde. Sein Vordermann machte wieder nur einen kleinen Satz und stand dann, bis die nächste Rotphase begann. Die Idioten hinter ihm hupten wie wild und er versuchte sich hinter dem Steuer klein zu machen. Voller Entsetzen sah er wie Karl Schmitz aus seinem Auto ausstieg und eilig zu seinem Volkswagen lief. Mit zitternden Händen kurbelte er seine Seitenscheibe runter. Karl Schmitz hatte ein hochrotes Gesicht und Schweißperlen auf der Stirn. „Steigen Sie aus! Und lassen Sie mich hinter das Steuer!“ Karl Schmitz’ Tonfall war laut und drohend. Dr. Meyers erstaunte Frage kam erstaunlich ruhig, aber mit zitternden Händen: „Warum?“ Karl Schmitz erwiderte: „Ich will hupen!“

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Peter Friedrich