In Gedanken eingetaucht
Gerade hatte ich mir vorgenommen, üppig Kaffee zu trinken. Es war eine sehr große Tasse Kaffee, denn der Löffel sank auf den Grund und ich konnte ihn nicht mehr sehen. Ergo beschloss ich mich meiner Kleidung zu entledigen und der Sache mit meiner neuen Taucherausrüstung auf den Grund zu gehen.
Zuvor hatte ich mittels großer Fußzehe in Erfahrung gebracht, ob die Flüssigkeit auf ein erträgliches Maß abgekühlt war. Und tatsächlich: Optimale Betriebstemperatur – will sagen: Handwarm. Ich sprang kurz entschlossen in die übergroße Kaffeetasse.
Da es sich um einen Milchkaffee handelte, wurde mir die Sicht genommen. Weiße Schleier bedeckten die Glasfläche der Taucherbrille. Doch mein Kompass, den ich noch aus meiner Pfadfinderzeit aufgehoben hatte, leistete gute Dienste.
Nach nicht einmal einer Zigarettenlänge konnte ich den Grund der Kaffeetasse erreichen. Doch unvorsichtigerweise stellte ich mich mit den Füßen auf den Boden der Kaffeetasse. Dieser aber war mit einer kniehohen Schicht Schlamm bedeckt. Dieser Schlamm bestand aus purem Zucker und hatte seiner Beschaffenheit nach die gleiche Sogwirkung wie Treibsand.
Ich sank mit beiden Füßen immer tiefer ein und konnte trotz Einsatz aller körpereigenen Kräfte diesen Vorgang nicht verhindern. Unvorsichtigerweise hatte ich den Tauchgang ohne Begleitperson in Angriff genommen. Ein fataler Fehler, wie mir schnell bewusst wurde. Aber wer denkt schon beim Kaffeetrinken ans Tauchen?
Mein Sauerstoffvorrat würde auch nicht ewig reichen, dachte ich mir in stiller Verzweiflung.
Mein Schicksal wäre ohne eine rettende Idee besiegelt. Ich werde ertrinken. Gut, das tun viele! Aber hier handelt es sich doch um ein besonderes Einzelschicksal. Ich ertrinke in Milchkaffee. Wie peinlich! Wenn dann in der Zeitung steht: „Nach einem missglückten Tauchgang, ertrank unser Sohn, Bruder, Onkel in einer überdimensionalen Tasse Kaffee“. Ein wirklich lächerlicher und überflüssiger Tod!
Doch schon den Tod vor Augen, sah ich wie sich plötzlich etwas in großer Geschwindigkeit auf mich zu bewegte. Es rauschte. Kurz darauf schoss ein Gegenstand – wie das Torpedo eines U-Boots- nur knapp an meinem Körper vorbei. Er durchpflügte – einem Schneepflug gleich- den Zuckerschlamm und wirbelte ihn auf. Wie eine Lawine wälzten sich Wellen von Zuckerschlamm durch den Milchkaffee. Als die Wellen meinen Körper erfassten, hatte ich das Gefühl, ich befände mich in einem Sandsturm. Nachdem sich das Gewässer wieder beruhigt hatte, erholte ich mich langsam.
Nach einigen Minuten des Schreckens und des Innehaltens hatte ich die neue Situation analysiert. Hatte ich kurze Zeit schon innerlich mit dem Leben abgeschlossen, so sah ich nun eine Möglichkeit meinem Schicksal zu entrinnen. Denn ich erblickte im leicht trüben Gewässer einen Schatten. Er gehörte einem Gegenstand, der sich in meiner Reichweite befand. Dem Umriss zufolge handelte es sich hierbei um den Kaffeelöffel. Und tatsächlich! Es war der Kaffeelöffel! Er war von der Innenwand der Tasse abgerutscht. Sein Eigengewicht hatte dafür gesorgt, dass er am Tassenboden entlang bis zur gegenüberliegenden Innenwand glitt.
Der Löffel hatte sich nun in schräger Lage zwischen den Tassenwänden verkeilt.
Die Lage des Löffels schien stabil. Er würde sich, so meine Hoffnung, keinen Zentimeter mehr bewegen. Mit ausgestreckten Armen erschien er mir erreichbar. Demzufolge könnte ich mich an seinem Stiel hochziehen und gleichzeitig versuchen meine Füße aus dem Zuckerschlamm des Tassenbodens zu befreien. Um erfolgreich zu sein, müsste ich aber die Sogwirkung, die meine Füße gefangen hielt, überwinden.
Ich konzentrierte mich einen Augenblick. Dann warf ich meinen Oberkörper in Manier eines Reckturners mit ausgestreckten Armen dem begehrten Gegenstand entgegen. Es gelang mir zuzupacken. Ich konnte – mit beiden Händen gleichzeitig- den Stiel des Kaffeelöffels ergreifen. Anschließend versuchte ich meine Füße mittels körpereigener Kraft aus dem Zuckerschlamm zu befreien.
Nur sehr langsam und mit einer übermenschlichen Energieleistung, die ich mir der Sogeffekt des Schlamms abverlangte, zog ich die Füße aus dem gefährlichen Zuckerbrei. Meine Schultergelenke schmerzten aufgrund des Kraftaktes, den ich vollzogen hatte. Doch der beinahe zeitgleich einsetzende Adrenalinausstoß betäubte diese Schmerzen.
Mit einem unheimlichen Glücksgefühl im Herzen strebte ich mit zügigem Flossenschlag gen Oberfläche der Kaffeetasse. Aufgrund des rasch ansteigenden Ohrendrucks bemerkte ich, dass ich mich in meiner Euphorie zu schnell nach oben bewegte. Ich reduzierte die Anzahl der Flossenschläge, wurde deutlich langsamer.
Während des minutenlangen Aufstieges erholte ich mich sehr gut. Mir wurde erst jetzt in vollem Umfang bewusst, dass ich soeben eine lebens-gefährliche Situation überstanden hatte.
Überglücklich tauchte ich schließlich mit dem Kopf an der Oberfläche des Milchkaffees auf. Da der Pegel der Flüssigkeit nur knapp unterhalb des Tassenrandes stand, war es mir ein Leichtes den Tasseninhalt mit einem sportlichen Beinschlag zu verlassen.
Als ich mit aufgerichteten Oberkörper auf dem Tassenrand saß, fasste ich den Entschluss künftig auf Espresso umzusteigen, da dieser bekanntlich in sehr kleinen, also weniger tiefen Tassen getrunken wird.
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NARRATOR68