Das letzte Gespräch
Er hatte in zwei, statt, wie von den meisten vorausgesagt, in fünf Jahren den Weg in die Chefetage geschafft. Andreas Krüger wusste jedoch, wie dünn das Eis war, auf dem er sich von jetzt ab bewegte. Daran hatte die Alte, wie sie alle die Besitzerin hinter vorgehaltener Hand nannten, von Anfang an keine Zweifel gelassen: „Krüger, Sie brauchen nur drei Dinge hier oben“, sagte sie bei seinem Antrittsgespräch.
An ihren Augen sah er, dass sie keine Antwort erwartete. „Erfolg, Erfolg und nochmal Erfolg. Was ich nicht brauche, ist irgendeine Erklärung, warum er ausblieb. Klar?“
„Das ist ganz in meinem Sinne, Frau Direktor Schmitz. Davon können Sie bei mir ausgehen, sonst wäre ich wohl kaum so schnell die Karriereleiter hochgestiegen.“
Sie lächelte bösartig: „Schön, wenn wir uns in diesem Punkt einig sind. Sie sollten nur eines wissen, junger Mann. Meine Angestellten sehen mich nur zwei Mal.“ Sie ließ einen Moment Pause, um ihren Punkt besser wirken zu lassen. „Beim Anfangen und beim Aufhören. Ich denke wir haben uns da verstanden.“
Das war jetzt 25 Jahre her, und nicht ein einziges Mal hatte er das in ihn gesetzte Vertrauen enttäuscht. Im Gegenteil, er hatte auf den wöchentlichen Sitzungen der Führungselite meistens als einer der Erfolgreichsten dagestanden.
Natürlich hatten einige neidische Kollegen immer wieder versucht, an seinem Stuhl zu sägen. Er hatte es immer schnell bemerkt und hatte dann erbarmungslos zurückgeschlagen. Menschliche Bedenken kannte er nicht, legale Richtlinien nur insoweit, wie er befürchtete, es könnte ihm etwas nachgewiesen werden.
Inzwischen hatte er praktisch alles, was er sich je erträumt hatte: Mehrere Luxusvillen, zwei Yachten, einen privaten Jet, eine wahre Schönheitskönigin als Frau, drei prächtige Kinder, die auf den teuersten Internaten in der Schweiz ihre Reifeprüfung machen sollten. Richtig geniesen konnte er all dies jedoch nicht, denn ein Augenblick der Unachtsamkeit würde genügen, und es würde ein kurzes Gespräch bei der Alten geben. Das Letzte.
Vielleicht war es auch sein Glück, dass er keine Zeit hatte, den Fragen nachzugehen, die ihn in letzter Zeit immer mehr bedrängten. Ende des Jahres würde er 55 Jahre alt werden. Sicher kein Alter für einen Topmanager.
Es war der vierte Adventssamstag. Normalerweise ließ er sich von irgendeinem Angestellten oder direkt von seiner Frau, Mona, die Weihnachtsgeschenke besorgen, schließlich kam er selbst gerade jetzt am Ende des Geschäftsjahres nicht zu solchen unwesentlichen Kleinigkeiten.
Gegen drei Uhr machte er sich trotz eigener Bedenken auf den Weg durch die Fussgängerzone. Es war seit 25 Jahren das erste Mal, dass er sich keine Rechenschaft ablegte, welches Ziel er damit konkret verfolgte. Was auch immer er wollte, es hatte nichts mit Weihnachten zu tun. Bestimmt nicht. Solche Sentimentalitäten waren etwas für einfache Leute, die nicht wussten, was wirklich zählte im Leben.
Auf dem Weihnachtsmarkt stand ein kleines Karussell, mit fünf, sechs bunt bemalten Tieren aus einer längst vergessenen Zeit, von denen kleine Kinder den wartenden Eltern begeistert herüberwinkten.
Die Kleinen hatten für einen Moment die Welt um sich herum völlig vergessen, fühlten sich für eine kurze Zeit wie auf einer Abenteuerreise, schienen nicht zu bemerken, dass sie sich selbst immer um denselben Punkt drehten. Wichtig für ihren kleinen Traum schien ihnen nur die kreisende Bewegung zu sein, denn schrecklich enttäuscht schauten sie, als das bunte Karussell anhielt und sie anderen kleinen Fahrgästen Platz machen mussten. Er erinnerte sich, welche Freude es ihm gemacht hatte, mit eben diesem Karussell zu fahren.
Plötzlich begriff er, was ihn in letzter Zeit so bedrängt hatte: Alles hatte er, nur keine Zeit. 25 Jahre glaubte er unterwegs zu sein, drehte sich aber all die Jahre nur um einen einzigen Punkt: Seine Vorstellung von Erfolg.
Mit langen Schritten ging er zurück zum Konzerngebäude, ließ sich bei Frau Doktor Schmitz melden.
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Peter Suska-Zerbes