Bahn-Episoden – Endstation Zwangsjacke

Vorweihnachtlicher Donnerstag, Hauptbahnhof Hannover.
Aus den Lautsprechern am Bahnsteig 3 ertönt: „Auf Gleis 3 und 4 im Abschnitt B steht ein unbeaufsichtigtes schwarzes Gepäckstück. Der Besitzer wird gebeten, dieses sofort abzuholen!“
Die Lichterketten spiegeln sich in den Fensterfronten, die auf die Bahnsteige führen.
Ein roter Koffer verliert sich zwischen den Passanten. Einsames Rot unter einer Anzeigetafel, welche einen 10 Minuten verspäteten Zug nach Hildesheim auf Gleis 3 anzeigt.

Wartestieg.
Düdeldidei. „Sicherheitsdurchsage: Bitte lassen Sie Ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt.“
Die Passanten schrecken vor dem roten Koffer zurück, drängen sich dicht aneinander an das Geländer, welches den Blick auf die Kaufhausstraße im unteren Bahnhofsbereich freigibt: Lebkuchenherzen, Bratwürste, gequetschte Brüstchen in Korsetts, Lackhaare, blinkende Hundeleinen, Tanz unter dem Weihnachtsbaum.
„In der Friseurstube Dritschmann wurde ein rosa Koffer abgegeben. Die Dame wird gebeten, das Gepäckstück unverzüglich abzuholen!!!“
Die Bahn gleitet ein am Gleis 3. Der Griff des roten Koffers wird von einer zerbrechlichen Hand eines kajalverschmierten Mädels ergriffen und in die am Mitteleingang des 2. Wagenteils drängelnde Schlange geschoben, wo sich ihre Spur verliert.

Einstieg. Zweitstieg.
Das Mädchen mit dem roten Koffer schubst ihren Knirps vor sich her, bis sie in das leere Wagenabteil 7 stolpert. Dort reisst sie ihren Mantel vom Leib, wirft ihn auf den rechten Fenstersitzplatz, drapiert ihre rote Mütze auf den Sitzplatz direkt am Eingang, ihr Koffer wird gegenüber in den freien Sitzplatz gestopft, sie klatscht ihren Schal auf den Sitzplatz links neben der Tür und schiebt ihren Po in der Mitte rechts neben der Tür in eine bequeme Ecke, krämert einen quengelgrünen Nagellack aus ihrem roten Mantel hervor und pinselt sich die Fingernägel an, als ein graubärtiger Alter die Tür des Wagenabteils eilig aufschlägt: „Alles voll.“, murmelt sie beiläufig, lackiert weiter, grinst weiter, er wandert weiter.

Mehrstieg. Abstieg.
Anzüglich Tragende schleifen sich geschäftsvertieft an inkognito Telefonschnuren durch die Gänge, erblicken die Schilder der reservierten Plätze im Wagenabteil 7, reissen die Türen auf, werfen ihre I-Pad-Zeitungen auf den Fenstersitzen nieder – beginnen, sich zu setzen, in Stürmereile: „Ja, diese Karikatur können Sie in den Müll werfen….“ – „Das ist doch nur Würstchenliteratur, ich schick Ihnen mal meinen Entwurf rüber.“ – „§13, Absatz 4, genau, ändern Sie das bitte ab, ich komme morgen vorbei“ – „Ach tatsächlich? Ich bin gegen den Afghanistaneinsatz.“ Die durchsichtigen Telefonkabel salaten und verdrahten sich, Zeit schwillt an.
Der Journalist notiert im Notizbuch neu entartete Einigkeit:

Aktentasche, Mann flüchtet, alle zusammen:
Eile, eile: Den Geschäftsmann zur Streckbank!
Koffer in der Hand, kaffee-entrüstet – ,
dass zum Zwecke einer Sinn erließe
sich in reichem Wissensschwalle
zu der Weisheit sich ergieße.

Doch wo stiefeln die Missgeburten?
Noch und nöcher drängt die Lebensstufe,
dass der Sand in Uhren schwillt:
Knecht, den ich hab gerufen! –
Chef, dass er nicht mehr brüllt! –
Mach, dass mein Befehl dir Wunder sei.
Noch und nöcher schrei`n die Uhren,
steht doch endlich still!
Da der Zeitarbeiter nicht an Böden lecken will:
Bis die Zünglein säubern unsre Stufen,
sei Telefonruh` im Geschäftsgebrüll!

Ausstieg. Umstieg. Abstieg.
Buslinie 4, Einstieg: Uni Hildesheim. Studentenmassen strömen ein, besetzen die Plätze.
Zwei Mädchen tauschen sich über den gestrigen Abend aus. „Boah, ich hab so das Bad geputzt, ich hab beim Telefonieren so heftig geputzt, mir ist die Badamatur abgebrochen, ne glaubste nich, ne. Echt hammer, boah, und ich hab noch ne dreiviertel Stunde weiter telefoniert, klar beim Putz´n, hehe, ne…“ Haha. Hehe. –
„Könnt ihr mal aufhör`n mit lachen?“, zischt eine Frauenstimme von vorn, dreht sich um.
„Das ist doch ein natürliches Recht, mal zu lachen….. haben sie keinen Humor?“
„Nee bei so nen´ dummen Studentinnen hab ich kein` Humor. Solche dummen Hühner, ihr esst doch den ganzen Tag nur Lachgas und Hühnerfrikassee, euch ham`se die Birne voller Hühnerkacke gestopft. Ihr seid so dumm, studieren kann doch jeder!“ –
„Vielleicht sollten Sie mal studieren!“ – „Ich hab studiert, du blöde Kuh. Mein Vater is` Dozent an der Uni und der kennt dich, da kannste einpacken. Ich war selber Lehrerin, Gymnastiklehrerin.“ Gelächter. „Gymnastik?“ – „Da hat sie wohl nur alte Opas betreut …“
„Ihr werdet schon noch seh`n, ihr dämlichen Gänse. Färbt euch nur die Haare. So rot und so schwarz… und schön fett Kajal unter die Augen, damit ihr schön billig ausseht! Abi kann doch jeder machen. Ihr seid einfach nur dumm.“ – „Jeder? Hat die gesagt `jeder`?“
„Seid ihr jetzt mal still, ihr stört den ganzen Bus!“
„Seien Sie doch still, Sie schreien doch hier so herum!“ Das Grinsen des Fahrers leuchtet im Rückspiegel.
„Ihr fresst nur Fleischklopse und Hot Dogs und ihr lacht nur dumm rum! Euch geben`se nur Hühnerfrikassee! Und wundert euch nich`, wenn ne Bombe in die Mensa kommt!“ –
„Wir könnten Sie anzeigen!“ – „Ich könnte Euch anzeigen, weil ihr so laut seid! Es steht im Gesetz, dass ihr hier still sein sollt!“ – „Wo steht das denn?“ –
„Das steht überall!“ – „Dann steigen Sie doch aus, wenn`s Ihnen zu laut ist.“
„Bei euch dummen Hühnern kann man ja nicht aussteigen, ihr seid ja überall in allen Bussen!“
Die Dame vom Sitz direkt hinter dem Fahrer erhebt sich: langes dünnes braunes Haar, schwarz umrandete müde Augen, halb verhungert, als hätte sie nur Taubenfutter bekommen von den Passanten, zerfallene Finger wie knorrige Äste, knapp 40 Jahre alt, mit aufrechtem Gang watet sie an den gackernden Hühnern vorbei.
„Solche Konsument`n ! Ihr mit eurem H&M und Deichmann! Guckt euch doch an!“ –
„Und Sie mit ihrer Fielmann-Brille?“
„Ich geh zu Kik, da is` es schön billig!“, der Bus senkt sich rechts ab, die überschüssige Triebluft strömt aus, es zischt, die Studentenmasse atmet aus, sie steigt aus, ihr Schrei verhallt zwischen den Glasfronten.
Endstation Zwangsjacke, die Glastüren schließen sich.

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Peggy Hamfler