Die ersten Schritte und noch weiter
Eins… zwei… drei… Los! So das war’s: der erste Schritt meiner Reise. Mein Körper fühlt sich unkontrolliert an, schwer steuerbar, aber keineswegs außer Kontrolle. Ein zweiter Schritt, das ist mein vorläufiges Ziel. Wankend komme ich zum Stehen, wie mühsam. Meine noch recht beschränkten Messungskünste, sagen mir, dass es noch ungefähr ein halber Meter ist, bis ich meine erste Pause machen kann. Ich trete den Kampf an, auf mein intaktes Innenohr vertrauend. Das Bein hebe ich leicht an und lasse mich nach vor fallen, ob das gut geht? Nein. Links, rechts, nach vorn, nach hinten wieder rechts wanke ich bis sich mein Schwerpunkt dann schlussendlich doch in eine für mich ungünstige Lage befindet und … ich hinfalle. Gedemütigt sitze ich da, das Kichern der Großen nehme ich kaum wahr. Mein ganzer Körper widmet sich nur einer Aufgabe, dem Wiederaufstehen. Bei solch einer „patschaten“ Motorik leichter gesagt als getan. Nach etlichen nicht minder peinlichen Versuchen gelingt es mir mich meiner zwei Beine so weit zu bemächtigen um die Hände nicht zu brauchen. Los geht’s wieder. Nur noch eine kleine Strecke… für die Menschheit, nicht für mich.
Erschöpft schaue ich an mir hinunter, was mir bei meinem übermäßig großen Kopf fast noch einmal die Balance gekostet hätte, und bewundere die Entfernung zum Boden. So weit bin ich schon gekommen, da wird es doch wohl auch noch reichen für die paar endlosen Zentimeter bis zum Ziel, oder? Oder? Dreißig Sekunden und zwei unglaublich schwankende Schritte später, erreiche ich sie endlich. Die warmen, herzlichen Arme meines Vaters. Behutsam umarmt er mich, wie immer wohl bedacht, mich nicht zu zerquetschen. Aber plötzlich, nach all den Anstrengungen der letzten Minuten gewinnt ein Drang in mir Übermacht, der Drang nach Weitergehen. Wie ich so einen Fuß nach dem anderen setze fällt mir auf, wie langsam aber sicher meine Unsicherheit verschwindet. Aber vor allem langsam.
Oft falle ich hin, und hier und da kommt ein großes Licht. Schon wieder ein Foto. Ich merke wie, ich wachse. Ich kann mir nicht dabei zuschauen, aber immer öfter überwältigt mich die Entfernung meines Kopfes zum Boden, eine schier unvorstellbare gefährliche Distanz. Und was passiert dann? Ich falle hin. Doch nicht so gefährlich, schließe ich aus meinen Erfahrungen. Und was passiert dann? Genau. Ein Foto.
Meistens trägt mich mein Kinderwagen noch, als ich zwei Kerzen an mir vorbeiziehen sehe. Das alleinständige Gehen ist oftmals doch zu anstrengend.
Langsam werde ich ungeduldig. Sich überall hin chauffieren zu lassen ist eine wunderbare Sache, doch wo bleibt die heiß ersehnte Eigenständigkeit. In mir brennt der Wunsch mein Leben selber in die Hand zu nehmen, meinen eigenen Weg zu gehen. Diesen Wunsch erfüllt mir die dritte Kerze, beim ausblasen.
So gehe ich nun an der Hand meiner Mutter, die bisher immer da war um meine Schritte zu beobachten, in den nächsten Lebensabschnitt meines noch recht kurzen Daseins. Um mich herum schwirren andere. Andere wie ich. Schon oft habe ich sie gesehen: im Park, zu Hause. Doch dieses mal ist etwas anders. Eine Zeit irre ich herum unter meinesgleichen, bis ich auf einmal mit Entsetzen feststelle, dass meine Mama verschwunden ist. Sie hat mich einfach allein gelassen inmitten einer Horde Nicht-im-entferntesten-Mamas! Voll in Panik gehe ich nun in diesem seltsamen Raum umher und bemerke, dass mein Wunsch erfüllt wurde. Hier kann ich meinem Weg folgen und trotzdem helfen mir gelegentlich Menschen, die auf mich aufpassen. Mit meinen neugewonnenen Freunden wandle ich durch diese Stätte und stelle zu meiner übermaßlichen Freude fest, dass es jetzt kein Problem mehr ist sich vorwärts zu bewegen. Es ist eine Leichtigkeit, von lästigem unkontrollierbarem Wanken nicht mehr gestört, zu stampfen, laufen und schlürfen.
Diese Freude wird zwar nicht verkleinert, aber doch ein wenig gehemmt, als ich bemerke, dass motorische Fähigkeit nicht bedeutet, immer den eigenen Weg gehen zu können. Oft gehe ich an Orte, die mir nicht zusagen, weil meine Freunde dorthin wollen. Da ist es eben an der Zeit eine starke Meinung zu bilden und für sie einzutreten.
Drei Kerzen lang verbringe ich an diesem Ort, bis mich mein Weg in eine andere Welt führt. Weg von alten Spielkumpanen und hin zu neuen Freunden. Nicht bemerkt hatte ich zuvor, wie wenig mich meine Eltern in meinem freien Fortbewegen eingeschränkt hatten. Immer sind sie mir gefolgt und haben mir meinen Willen gelassen, fast immer.
Jetzt ist das vorbei. Es ist Zeit meinen mit dem für mich vorgesehenem Pfad in Einklang zu bringen. Doch das ist nicht schwierig, denn nun erhalte ich geistig viel mehr Möglichkeiten mein Denken zu erweitern. Da erlange ich eine überaus wichtige Erkenntnis: Im Kopf wird der eigene Weg bestimmt. Im Kopf, weiß ich was ich will. Dort ist es zum Denken.
Immer seltener mache ich von ihnen Gebrauch doch wenn ich sie brauche sind da immer die helfenden Arme meiner Eltern, die mich vom Hinfallen abhalten.
Nun aber ist es nicht mehr so wie früher, aufstehen, hinfallen, aufstehen, hinfallen. Es ist vielmehr so, als würde ich anstatt das Gleichgewicht zu verlieren mit einer großen Last – nicht mit der Schultasche zu verwechseln – gehen. Gebückt. Bis sich das Problem löst, falls es das tut, bis sich jemand meiner annimmt, bis jemand bereit ist die Last mit mir zu tragen und sei es nur eine unglaublich schwere Hausübung. Immer fester wachsen wir zusammen, meine Freunde und ich. Nur, dass gerade dann die neue Schule kommt.
Immer näher rückt das beängstigende Gebäude und mir geht es viel zu schnell. Doch man kann eben die Zeit nicht bestimmen, so langsam man sich auch bewegt. Ich genieße die letzten Momente meiner Volksschulzeit, während alles an mir vorbeifliegt, als würde ich mit einem ICE fahren und nicht einen Fuß nach dem anderen setzen.
Alles neu. Lehrer, Leute, Haus, Pflichten und Freiheiten. Je mehr ich mich eingeengt fühle von diversen Aufgaben desto präsenter wird eine Tür, die auf der anderen Seite aufgeht. Ich betrete sie zuerst unschlüssig, dann entzückt von ihren Vorteilen. Wie viel mehr ich auf einmal alleine tun darf! Man könnte es sich vorstellen, wie eine Kartonbox, die einem über den Kopf gestülpt wird, die je nach Tag verschieden viel wiegt, etwa wie eine Schultasche. Doch in diesen Karton werden so viele Löcher, gebohrt, dass man gar nicht auf die Löcher verzichten will. Und was sind Löcher ohne einer Box? Nichts. Und genau das ist der Grund warum man doch lieber die Box trägt, freiwillig, mal abgesehen von der Schulpflicht.
Jetzt gibt es sie, die Weggabelungen, aber sie werden für mich vorausbestimmt, ich habe nicht viel dazu zu sagen.
Allzu bald ändert sich das. Jetzt plötzlich, wo sie niemand mehr für einen bestimmt, vergrößert sich auf einmal auch die Anzahl der Gabelungen.
So viel Auswahl, so viele Arten sein Leben zu gestalten.
Beraten können da Eltern, Lehrer, generell Erwachsene so viel sie wollen, geben können sie einem jeden nur die Wanderschuhe.
Und so bestimmt jeder seinen eigenen Weg
…durch die Pubertät.
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Balconi